: Flexibles Vorbild Japan?
Zulieferfirmen, Ausländer und Frauen wirken als Konjunktur-Puffer für die Großbetriebe und ihre gutverdienenden Angestellten ■ Aus Tokio Michael Mandelartz
Die Rezession geht ins fünfte Jahr. Das hat im Bild vom „Erfolgsmodell Japan“ Risse hinterlassen und zu einer realistischen Sicht auf den fernöstlichen Wirtschaftsriesen geführt. Doch der Mythos von der lebenslangen Anstellung der Japaner bleibt in den Köpfen. Daß einige Großbetriebe beginnen, ihre Belegschaft auch durch Entlassungen auszudünnen, wird hierzulande als grundlegende Neuerung in der japanischen Arbeitsgesellschaft angesehen. Doch ist leicht zu sehen, daß am Gesamtbild etwas faul ist: Wie sollte eine Volkswirtschaft, in der schneller als anderswo neue Zweige entstehen, zugleich ihre Arbeitskräfte auf den alten Stellen halten?
Tatsächlich sitzen nur 12 Prozent der Arbeitnehmer auf einem sicheren Arbeitsplatz. Rechnet man die Beschäftigten im öffentlichen Dienst dazu, so werden es knapp 30 Prozent. Die überwiegende Mehrheit aber arbeitet in der Unzahl von Klein- und Mittelbetrieben, zu einem erklecklichen Teil Zulieferer für die großen Firmen. Häufig hängen sie von den Aufträgen eines einzigen Konzerns ab. Die Arbeitsbedingungen aber unterscheiden sich grundlegend von denen des Mutterbetriebes. Die Gehälter liegen nicht selten knapp über der Hälfte, und von sicheren Arbeitsplätzen kann nur beim kleineren Teil der Beschäftigten die Rede sein. Ein Bauzulieferer etwa, der im Raum Tokio auf fünf Betriebsgeländen Rundeisen für den Stahlbetonbau biegt, auf die Baustellen liefert und dort die Verschalungen baut, beschäftigt je nach Auftragslage zwischen 120 und über 300 Leute, davon 60 Festangestellte, deren Anfangsgehalt bei jährlich 35.000 Mark liegt und nach zehn Jahren auf etwa 78.000 Mark gestiegen ist. Dazu kommen 60 stundenweise bezahlte Kräfte, die gleichwohl überwiegend die volle Arbeitszeit ableisten, für die aber weder Steuern noch Sozialabgaben gezahlt werden. Bis zu 120 weitere Arbeiter werden von Leihfirmen rekrutiert.
Darüber hinaus sind dem Betrieb sechs „Praktikanten“ aus Entwicklungsländern zugeteilt worden, die im ersten halben Jahr, der offiziellen „Ausbildungszeit“, zusätzlich zur Unterkunft durch den Arbeitgeber etwa 1.000 Mark pro Monat, in den restlichen anderthalb Jahren etwa 1.700 Mark bekommen. Da sie als illegale Arbeiter wesentlich bessere Verdienstchancen hätten, behält der Arbeitgeber die Pässe ein, um die Flucht zu verhindern.
Der zwischen festangestellten und hochmobilen Kräften gespaltene Arbeitsmarkt, wie er seit einigen Jahren auch in Deutschland von Regierung und Arbeitgebern anvisiert wird, hat in Japan Tradition. Auf der Sonnenseite stehen die Mitarbeiter der Großbetriebe: von den besten Ausbildungsstätten rekrutiert und unter hervorragenden Bedingungen mit Festanstellung, laufender Weiterbildung im Betrieb und überdurchschnittlich gutem Gehalt beschäftigt. Im Regen steht dagegen die Mehrheit der Mitarbeiter in den Mittel- und Kleinbetrieben.
Entwickelt sich ein neuer Wirtschaftszweig – wie etwa die Mikroelektronik in den 80er Jahren – so entstehen sehr schnell neue Klein- und Mittelbetriebe, die den Großbetrieben eine schnelle Reaktion auf die neuen Anforderungen des Marktes erlauben. Neben den Zulieferern bilden die Frauen einen zweiten Puffer. Nach wie vor wird das Bild der Frau in Japan von der treusorgenden Gattin und Mutter bestimmt, obwohl der Anteil der Frauen an allen Erwerbstätigen mit 40 Prozent ebenso hoch wie in Deutschland liegt. Strukturell gibt es jedoch erhebliche Unterschiede zwischen den beiden Ländern.
Nach der Heirat, spätestens beim ersten Kind, werden die Frauen von den Betrieben noch immer gedrängt, sich ganz der Familie zu widmen, den Beruf also aufzugeben. Selbst wenn sie dieselben Eingangsgehälter wie ihre männlichen Kollegen bekommen, erreichen sie nicht die für das Unternehmen kostenintensive Phase der progressiven Lohnsteigerungen.
Die besten Einstellungschancen haben daher die Absolventinnen der zweijährigen „Kurzuniversitäten“. Der Lebensabschnitt zwischen Universitätsabschluß und Familiengründung ist einerseits lang genug, um dem Unternehmen Gewinn zu bringen, andererseits kurz genug, um es nicht zu sehr mit Lohnkosten zu belasten. Auch nach der Familienphase haben Frauen kaum Chancen auf einen festen Arbeitsplatz. Selbst mit guter Ausbildung werden sie in aller Regel nur von Mittel- und Kleinbetrieben als Teilzeitkräfte eingestellt und werden, wenn der Betrieb in Schwierigkeiten gerät, zuerst entlassen.
Der Modellfall der lebenslangen Anstellung trifft also nur auf eine Minderheit der japanischen Arbeitnehmer zu. Dennoch prägt er das japanische Sozialverhalten ganz wesentlich als das entscheidende Ziel aller jungen Japaner.
Als Erklärungsmodell der lebenslangen Beschäftigung und umgekehrt der „Treue“ japanischer Arbeitnehmer zu ihrem Betrieb wird nicht selten die Tradition der bäuerlichen Dorfgemeinschaft zitiert, für die der soziale Zusammenhalt wegen des gemeinsamen Reisbaus in der Tat lebenswichtig war. Das gegenwärtige Arbeitssystem dürfte aber nur zum geringeren Teil auf die Tradition zurückzuführen sein. Entscheidend sind, wie fast immer, die ökonomischen Verhältnisse, die von den Konzernen im Laufe der 20er und 30er Jahre, in einer Zeit erheblichen Arbeitskräftemangels und hoher Mobilität der Arbeitnehmer, durchgesetzt wurden.
Eine wichtige Rolle spielt dabei das Entlohnungssystem: Frischlinge von der Universität bekommen ein so niedriges Einstiegsgehalt, daß sie häufig auf Unterstützung aus der Familie angewiesen sind. Mit zunehmender Betriebszugehörigkeit steigt das Gehalt steil an, so daß ein Firmenwechsel für den Arbeitnehmer mit einem kräftigen Abwärtsrutsch auf der Lohnskala verbunden wäre.
Hinzu kommt, daß die von den Betrieben ohne staatliche Vorgaben in Eigenregie durchgeführten Ausbildungsgänge kaum miteinander kompatibel sind und der neue Betrieb den ,Überläufer‘ erst einmal neu ausbilden müßte. Das wäre kaum rentabel.
Trotz der Rezession konnten die meisten Großbetriebe bislang ihre Politik der lebenslangen Anstellung durchhalten. Wenn einige krisengebeutelte Unternehmen jetzt die ersten Mitarbeiter entlassen, dürfte das kaum auf einen Einstellungswandel unter den Wirtschaftsstrategen hinweisen: die Vorteile sind zu deutlich, die ihnen eine Spaltung des Arbeitsmarktes bringt.
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