: Kleine Geste an Ungarns Juden
Ein Abkommen mit jüdischen Gruppen sieht die Errichtung einer Stiftung vor. Hier können Holocaust-Überlebende individuelle Anträge zur Aufbesserung ihrer Rente stellen ■ Von Christian Semler
Berlin (taz) – Zwischen der ungarischen Regierung und Vertretern jüdischer Religionsgemeinschaften ist am Mittwoch ein Abkommen geschlossen worden, das die Rückgabe jüdischen Eigentums und Entschädigungszahlungen an die rund 20.000 Juden regelt, die den Holocaust überlebt haben. Durch den Vertrag, der noch der Ratifizierung durch das Parlament bedarf, wird das Eigentum an dem durch die Nazis beziehungsweise nach 1945 durch die Realsozialisten enteigneten Grundbesitz der jüdischen Gemeinden, an Schulen, Krankenhäusern oder Bibliotheken rückübertragen. Neuer Träger wird eine Stiftung sein, in die der ungarische Staat rund 27 Millionen Dollar einbringen wird – als Wiedergutmachung. Die Überlebenden des Holocaust können aus dem Stiftungsvermögen eine, wenngleich geringe, Aufbesserung ihrer Renten beantragen.
Eine solche Stiftung zu errichten, hatte sich Ungarn, ein Alliierter Nazideutschlands, im Pariser Friedensvertrag von 1947 verpflichtet. Das Stiftungsvermögen hätte nach den Bestimmungen des Vertrags der Bewahrung des jüdischen religiösen und kulturellen Erbes zugute kommen sollen. Allein die Realsozialisten glaubten sich an diese Klausel des Pariser Vertrages nicht gebunden. Auch nach 1989 passierte zunächst nichts, bis das ungarische Verfassungsgericht die Stiftungsauflage des Friedensvertrags für rechtsverbindlich erklärte.
Bei den Verhandlungen, die nach dem Urteilsspruch aufgenommen wurden, forderte der Jewish World Congress zunächst zum Transfer einer Entschädigungssumme nach Israel auf, wo viele der überlebenden ungarischen Juden Zuflucht gefunden hatten, konnte sich aber mit dieser Forderung nicht durchsetzen. Die ungarische Regierung lehnte individuelle Entschädigungen generell ab, sagte aber die Restitution des Eigentums der ungarischen jüdischen Gemeinden zu. Sie regte dann bei den verschiedenen Religionsgemeinschaften an, Listen von Häusern, Grundstücken und Kunstgegenständen aufzustellen, die während und nach dem Zweiten Weltkrieg enteignet worden waren. Auch stellte sie wahlweise Naturalrestitution oder Entschädigung in Aussicht.
Diese Entschädigung sollte allerdings in Form einer Pauschale erfolgen. Da sich die Mehrzahl der in Frage kommenden Gebäude in erbärmlichem Zustand befinden, optierten die christlichen Konfessionen für Entschädigung, obwohl diese in keiner Weise dem (wie auch immer geminderten) Verkehrswert der Objekte Rechnung trägt. Aber selbst diese Entschädigung konnte, Folge der chronischen ungarischen Haushaltsprobleme, bisher nicht geleistet werden. Das jetzige Abkommen zieht aus dieser mißlichen Lage die Schlußfolgerung.
Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in Ungarn rund 600.000 Juden. Heute sind es knapp 100.000. Sie wohnen meist in Budapest, sind aber nur zum geringeren Teil Mitglieder der jüdischen Gemeinden.
Der Generalsekretär des Jüdischen Weltkongresses, Israel Singer, meinte nach Unterzeichnung der Vereinbarung, diese könnte als Modell für andere ostmitteleuropäische Länder dienen. Gemeint sind damit die Tschechische Republik, vor allem aber Polen. In einem polnischen Parlamentsausschuß schmort eine Gesetzesvorlage, die die Rückgabe von Häusern und Grundstücken an die jüdischen Gemeinden vorsieht. 230 Synagogen und zahlreiche weitere Gebäude würden dann in das Eigentum der neuen kleinen Gemeinden übergehen, die die Ausrottungspolitik der Nazis überlebten. Selbst diese Geste ist politisch umstritten, obwohl die Restitutionsansprüche der katholischen Kirche längst in überreichem Maße befriedigt worden sind.
Die jetzt in Ungarn gefundene Lösung mit ihrer rudimentären Möglichkeit individueller Entschädigung wird dem Streit zwischen der polnischen Regierung und den jüdischen Organisationen neue Nahrung geben. Bis jetzt beharrt die polnische Seite darauf, daß individuelle Rückgabeansprüche für die Nachkommen ehemals polnischer jüdischer Bürger durch ein Gesetz von 1946 verwirkt seien.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen