Volksjustiz im Amoklauf

■ „Paradise Lost“, ein Dokumentarfilm über eine Justizfarce in der US-Provinz

Am Ende ist man genauso schlau wie vorher. Zumindest, was die Frage nach der Schuld von Jessie Miskelley (17), Jason Baldwin (16) und Damien Echols (18) anbelangt. Ob die drei Teenager tatsächlich die Verstümmelungs-Morde an drei achtjährigen Jungen in Robin Hood Hills, einem Provinznest im Süden der USA, begangen haben, bleibt offen.

Dafür ergeben sich Einsichten subtilerer Art. Dem Dokumentarfilm Paradise Lost: The Child Murders At Robin Hood Hills gelingt es, im Verlauf zweieinhalb spannender Stunden die latenten Mechanismen der US-amerikanischen Kleinstadtmoral bloßzulegen. In der Tradition des „cinema verite“, stellungnehmende Kommentare vermeidend, verfolgten die Regisseure Joe Berlinger und Bruce Sinofsky über einen Zeitraum von einem Jahr den Prozeß gegen die drei jugendlichen Angeklagten, die Reaktionen von Freunden und Verwandten der Opfer und Täter sowie den dominierenden Einfluß der Medien auf die Öffentlichkeit. Das Ergebnis ist eine dekonstruktivistische Studie, die verdeutlicht, wie die Aufrecht-erhaltung etablierter „Normalität“ von der Verdammbarkeit von „Andersartigkeit“lebt.

Im kleingeistig-verchristlichten Provinzmief von Robin Hood Hills erscheint das Böse in den unerwartetsten Formen. So ist Damien Echols allein schon deshalb potentiell verdächtig, weil er eine Vorliebe für schwarze Kleidung, Stephen-King-Bücher und Musik von Metallica zeigt. Für fanatische Kleinstadt-Christen eignet er sich damit bestens zum satanistischen Kult-Killer. „Damien gibt zwar zu, Heavy Metal-Musik zu hören und gerne schwarz zu tragen, behauptet aber, nicht der Mörder zu sein“, zweifelt eine Fernseh-Reporterin. Insofern auch ein Lehrstück über die Dehnbarkeit von Logik.

Groteske Szenen ergeben sich zuhauf. So suchen die verbitterten Eltern der Mordopfer Halt in Gewaltphantasien, die dem tatsächlichen Verbrechen ähneln. Der Stiefvater eines der Opfer zerschießt lustvoll Kürbisse, die ihm die drei angeblichen Mörder repräsentieren. Nicht undämonisch verflucht seine Frau „die Mörder und die Mütter, die sie geboren haben.“ Eine andere Mutter soll ein Fern-sehinterview geben: „Oh God, I'm in TV!“, jubelt sie, bevor die Kamera filmt. Dann erst zeigt sie die medienadäquate Betroffenheit.

Das Hinterfragen durch Beobachten soziokultureller Phänomene wird vorangetrieben von einer Spannung erzeugenden Erlebnisgegenwart, die dem Zuschauer in der chronologischen Dokumentation des Prozeßverlaufs ermöglicht wird. Ein Justiz-Thriller der etwas anderen Art, der ohne Zeigefinger aufzeigt, wie ein Prozeß schon vor seinem Beginn entschieden sein kann: Im Zweifel gegen die Angeklagten. Christian Schuldt

11.-15. Juli, 17.45 Uhr, 3001