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Die Frau mit dem Dolch

■ Gisela von Wysocki las im Literaturhaus aus „Fremde Bühnen“

Mit einem Dolch stach die Schriftstellerin Gisela von Wysocki auf ihr soeben erschienenes Buch Fremde Bühnen ein. Wie Judith das Haupt des Holofernes vom Rumpf abtrennte und triumphierend darbot, präsentierte Wysocki – Gesichter: „Was auf diesen wenigen Quadratzentimetern alles zusammenkommt!“

Was Wysockis einleitender Essay zu diesem Thema auslotet, machen die dann folgenden Geschichten sichtbar: Freunde und Bekannte der Autorin skizzieren ihr eigenes Gesicht, benennen Eigentümlichkeiten, Mängel und Veränderungen. Wysocki macht den jeweiligen Sprecher durch Namenskürzel, Alter, Berufsangabe und Wohnort kenntlich. Neugierige können also trefflich raten, wessen Antlitz sie gerade vor sich sehen, zum Beispiel das von Yoko Tawada: „Die Gesichter der Japaner sind glatter, voll von Oberfläche, leicht wie ein Schiff, ohne Tragik und Tiefe.“ Die Beschreibungen ermöglichen Aufschlüsse über den Zusammenhang von Person und Gesicht. Friederike Mayröcker, 1924 geboren, empfindet beim Griff an den Kopf diesen wie einen Totenschädel: „Was jetzt noch zu sehen ist, am eigenen Gesicht, ist, wie es altert.“

Gisela von Wysocki las Dienstag im Literaturhaus verschiedene Gesichtsgeschichten, gelegentlich streute sie essayistische Passagen ein. So konnten die Zuhörer sich in den Anblick einer Gesichtslandschaft verlieren, aber auch Einblick nehmen in die Vermessung des Kontinents Gesicht. Wysockis vielstimmiges Buch Fremde Bühnen zeugt von hoher Beobachtungskunst. Im Spiegel ihrer Seh- und Sprachschärfe eröffnet sich dem Leser eine Welt fremder Gesichter. Betrachtet er neuerlich sein eigenes Gesicht, lernt er es deutlicher sehen: „Sich anschauen, für einen kurzen Moment. Sich in seinem Gesicht aufhalten.“

Frauke Hamann

Gisela von Wysocki, Fremde Bühnen, EVA, 252 Seiten, 42 Mark

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