: Nahrung für die Logik des Krieges
Zum Schutz vor islamistischen Banden greifen immer mehr AlgerierInnen zu den Waffen. Doch ihre Gegner pflegen nicht selten enge Kontakte zu örtlichen Honoratioren ■ Aus Blida Bettina Rühl
Das Foto hängt neben einem Koranvers an der kahlen Wand über dem Fernseher, die algerische Landesflagge daneben gibt dem Ensemble die Ausstrahlung eines Altars. Der junge Mann auf dem Bild war Anführer der Selbstverteidigungstruppe in dem Örtchen Haouch-Gros, eine Autostunde südlich der algerischen Hauptstadt Algier. Im vergangenen September wurde Muhammad bei einem Gefecht mit islamistischen Untergrundkämpfern erschossen. Sein 80jähriger Vater sieht das Bild des Toten ohne Bedauern: „Früher habe ich mich wie ein Mann gefühlt. Seit mein Sohn im Kampf gegen den Terrorismus gefallen ist, fühle ich mich wie zwei Männer.“ Der alte Abdelkader hat jahrelang auf den Feldern gearbeitet, sein Mund ist zahnlos geworden, und die Schultern sind krumm. Wäre er noch etwas rüstiger, sagt der 80jährige, würde er selbst zu den Waffen greifen und sich den Milizionären anschließen, „um gegen die zu kämpfen, die das ganze Dorf in Schrecken versetzen“.
Die Region um Blida gilt als Hochburg der bewaffneten Islamisten. Die Dörfer liegen am Fuß der Bergkette Chréa, früher ein Wochenendziel für Ausflügler aus Algier. Jetzt patrouillieren Militärhubschrauber über den Schluchten und Gipfeln des schwer zugänglichen Bergmassivs.
In dem Örtchen Haouch-Gros leben vor allem Bauern und Händler. Die Häuser und Produktionsanlagen aus der Kolonialzeit sind halb verfallen, die wenigen Neubauten unvollendet. Im Frühjahr 1995 haben sich die ersten Männer als sogenannte „Patrioten“ zu einer Miliz zusammengetan. Damals hat die Staatsführung angefangen, auf Anfrage und unter bestimmten Bedingungen Waffen in abgelegenen Dörfern zu verteilen. „Wir können nicht vor jedes Haus einen Gendarmen stellen“, erklärt einer der staatlichen Waffenträger knapp. Heute habe die Gruppe etwa hundert Mitglieder, sagen die „Patrioten“, und in dem Nachbarort Ben-Chabane seien es noch mal so viele.
Der alte Vater des toten Muhammad bezeichnet die bewaffneten Islamisten nur als Terroristen – vom Islam könne im Zusammenhang mit ihnen keine Rede sein: „Sie haben die Händler bedroht und Geld verlangt. Sie haben gesagt: Entweder gebt ihr uns Geld, oder wir werden euch töten.“ Einige Händler hätten sich der Erpressung verweigert und seien aus dem Ort geflohen. „Andere haben bezahlt, aber die Terroristen kamen trotzdem wieder und haben noch mehr Geld verlangt.“ Diese Form des Terrors habe schon lange vor den abgebrochenen Parlamentswahlen vom Dezember 1991 angefangen: „Sie waren da, sie haben sich organisiert. Nach den Wahlen haben sie die Chance gesehen, richtig loszuschlagen.“ Diese Leute seien aus dem Dorf gewesen, jeder habe sie gekannt. Früher seien sie niemandem durch besondere Gläubigkeit aufgefallen. Später hätten sie Frauen und Mädchen entführt und sie vergewaltigt.
Ähnliches berichtet auch amnesty international: In ihren Untergrundlagern hielten bewaffnete Gruppen Frauen zum Teil über Monate fest, um sie zu vergewaltigen. Ihre Zahl sei nicht einmal zu schätzen, sagen algerische Journalistinnen: es können Hunderte oder Tausende sein. Durch diese Praxis haben sich die radikalen Islamisten viel von der anfänglichen Sympathie für diese Gegner des Regimes verspielt.
Im Nachbarort Ben-Chabane lebt Nadschwa Hamri. Auf den Zuruf eines „Patrioten“ öffnet sie die Stahltür zu ihrem Haus mit Innenhof. Nur die leichte Pubertätsakne verrät ihre Jugend; die 15jährige sieht aus wie 25. Vor einem Jahr kamen abends zwei Männer. Sie trugen Waffen; einer war aus dem Dorf. Vor Nadschwas Augen erschossen sie ihren Vater und ihre Mutter, dann den zwölfjährigen Bruder – Rache dafür, daß drei Söhne der Familie zu den Milizionären gehören. Wer auf welcher Seite steht, ist im Dorf kein Geheimnis.
In Nadschwas Nachbarschaft wohnt einer, der sich zu den islamistischen Untergrundkämpfern zählt. „Er heißt Saab. Eines Tages hat er mich auf der Straße angehalten, hat mit seinem Gewehr auf meinen Kopf gezielt und hat gesagt: Wenn ich noch einmal sehe, daß du zur Schule gehst, werde ich dich töten.“ Saab habe ihr alles mögliche verbieten wollen, und Nadschwa nahm seine Drohung durchaus ernst: „Er hat hier viele Menschen getötet.“ Trotzdem besucht die 15jährige Waise weiter die Schule und geht mit ihren Freundinnen noch immer auf die Straße. „Man muß diesen Mut haben, wir können ihnen nicht unser Land überlassen.“ Und sie ist für die Anwesenheit der Milizionäre dankbar. „Am Anfang hatten wir Angst. Aber jetzt haben wir vor niemandem mehr Angst, jetzt haben wir Männer, die uns beschützen.“
Unter diesen Männern sind auch einige Frauen: Rabia Selami zum Beispiel. Die 42jährige hat ein breites, weiches Gesicht und wirkt durch und durch mütterlich. Am 8. März kam die „Patriotin“ nach Algier, um auf einer Versammlung der „Algerischen Versammlung der demokratischen Frauen“ (RAFD) zu sprechen. Bis Rabia Selami auf dem Podium erscheinen konnte, mußte sich das Publikum etwas gedulden: Wegen ihrer Waffe war sie bei der Sicherheitskontrolle vor dem Eingang des Theatersaals festgehalten worden. Dann nahm die kleine Frau mit dem Kopftuch ihren Platz auf der Bühne ein, und ihre Verlegenheit klang in der Stimme mit: Sie sei nicht gewöhnt, vor so vielen Leuten zu sprechen, wisse aber, mit „Terroristen“ umzugehen.
Zweimal hätten bewaffnete Gruppen die Familie in Haouch- Gros angegriffen, erzählt Rabia. Die Selamis verschanzten sich auf dem Dach ihres Hauses und wehrten sich mit Steinen und Molotowcocktails. Wenig später wurde ein Familienmitglied mit aufgeschnittener Kehle gefunden. Rabia und ihr Mann Muhammad flohen aus dem Dorf. Erst nach drei Monaten kehrten sie zurück. Muhammad bemühte sich bei der Regierung um Waffen. „Sobald wir Waffen hatten, haben wir angefangen, diese Menschen zu töten“, erzählt Rabia nüchtern. „Sobald wir die Waffen hatten, hatten wir schon fast gewonnen.“ Jetzt sei es in dem Dorf ruhiger geworden, doch es komme noch immer zu Gefechten. Dabei wurde ihr Mann im vergangenen Dezember erschossen. Rabia will weiter mit der Waffe kämpfen: „Das ist für mich normal geworden. Von dem Moment an, wo wir diesen Krieg gegen die Terroristen geführt haben, habe ich die Angst verloren. Von dem Tag habe ich nur noch darauf gewartet, daß sie kommen, damit wir sie töten können.“ Diese Ansicht ist in den Dörfern um Blida weit verbreitet. Die Warnung davor, daß die Bildung von bewaffneten Selbstverteidigungsmilizen der Logik des Krieges neue Nahrung gebe, ist in Algerien nur selten zu hören.
Der Kommandant der Region – er will namenlos bleiben – weist diese Überlegung weit von sich. Er bescheinigt den Milizionären uneingeschränkten Erfolg. Die Zahl der bewaffneten Untergrundkämpfer sei bedeutsam, nehme aber ab – genauer will er sich nicht festlegen. Der Militär ist bemüht, Optimismus zu verbreiten: „Wenn sich nichts Grundlegendes ändert, gibt es in wenigen Monaten keinen Terrorismus mehr in Blida.“ Die grundlegenden Änderungen, das wären für ihn neue Quellen der Unterstützung oder neue Strukturen des Terrorismus.
Diese Strukturen aber sind schon jetzt kaum zu durchschauen und daher für die staatlichen Sicherheitskräfte nur schwer unter Kontrolle zu bringen. Die „Bewaffneten Islamischen Gruppen“ (GIA) und die „Islamische Armee des Heils“ (AIS) sind nur die größten der bewaffneten Untergrundgruppen. Der Kommandant bestätigt schließlich, was die Bewohner von Haouch-Gros und Ben Chabane schildern: Von GIA und AIS unabhängig oder mit nur lockerer Verbindung arbeiten auch „kriminelle“ Banden, die von der unsicheren Lage profitieren und die Bevölkerung mit Erpressungen und Schutzgeldforderungen terrorisieren. Daß die unübersichtliche Struktur der bewaffneten Gruppen die Suche nach einer politischen Lösung ebenso erschwert wie den militärischen Sieg, will der Kommandant jedoch so nicht gelten lassen: „Das sind nur kleine Diebe.“
Eine Studie der französischen Stiftung für politische Wissenschaften, CERI, bestätigt die Existenz autonomer Gruppen, die mit dem Terror blühende Geschäfte machen. Und: Von einer klaren Front zwischen Regierungsvertretern und bewaffneten islamistischen Gruppen könne keine Rede sein. Diese vereinfachende Beschreibung „widerspricht der entgegenkommenden Haltung der bewaffneten Opposition gegenüber einigen lokalen Politikern, die dennoch als Feinde bezeichnet werden“. Basis der Verständigung zwischen islamistischen Untergrundkämpfern, autonomen bewaffneten Gruppen und einigen der lokalen Honoratioren sei die gemeinsame Erfahrung, daß der Krieg als Mittel taugt, um Reichtum und Ansehen zu vergrößern. Die Sabotageakte bewaffneter Gruppen haben der algerischen Volkswirtschaft schweren Schaden zugefügt. Auf mehr als zwei Milliarden US-Dollar beziffert das Industrieministerium die finanziellen Verluste seit 1992. Die industrielle Produktion sei in den vergangenen vier Jahren um zehn Prozent zurückgegangen. Ursache hierfür seien Arbeitslosigkeit nach der Zerstörung von Produktionsanlagen sowie das unsichere Investitionsklima. Dennoch gab es 1995 nach Jahren der Rezession erstmals wieder ein leichtes Wachstum des Bruttosozialproduktes.
Die Sabotageakte richteten sich vor allem gegen Staatsunternehmen, so die CERI-Studie. Besonders betroffen sei das öffentliche Transportwesen. Die Hauptverkehrsadern würden von bewaffneten Gruppen kontrolliert, die Schutzgelder fordern oder Lkw- Ladungen beschlagnahmen. Die Gewinne blieben – je nach Region – bei den autonomen Gruppen oder flössen an GIA oder AIS. Private Unternehmer könnten sich durch mehr oder weniger regelmäßige Tribute häufig mit den kriminellen oder islamistischen Banden arrangieren, während die Angestellten des Staates zur Aufgabe gezwungen oder getötet würden. „Das Wachstum des privaten Sektors, der von der Regierung seit 1994 gefördert wird, läßt gleichzeitig die Reserven der Untergrundkämpfer wachsen“, heißt es in dem Bericht. Zu den Jungunternehmern, die sich mit den bewaffneten Gruppen arrangieren, zählen demnach vor allem im Landesinneren auch lokale Honoratioren.
Der alte Abdelkader aus Haouch-Gros hat dafür ganz einfache Worte: „Die Terroristen findest du überall: auf dem Markt, in den Fabriken, neben den Politikern – wo du hingehst, haben sie ihre Hände im Spiel.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen