Point 'n' Click: Sprung in die Moderne
■ Eine CD-ROM-Enzyklopädie über österreichische Architekten
Was wäre wohl passiert, wenn der österreichische Architekt Richard Neutra nicht in Chicago zur Beerdigung seines amerikanischen Vorbilds Sullivan gegangen wäre? Und wenn er bei dieser Beerdigung nicht einen bestimmten Sullivan-Schüler getroffen hätte, nämlich Frank Lloyd Wright, der ihn bei dieser Gelegenheit zu sich in sein Landhaus nach Arizona eingeladen hätte? Und was, wenn Wright den jungen Wiener Nachwuchsarchitekten dort nicht als Assistent an einigen seiner berühmtesten Projekte eingestellt hätte? Wäre Neutra danach in Los Angeles gelandet, und hätte er sich dort so schnell einen eigenen Namen gemacht und bald selbst amerikanische Architekturgeschichte geschrieben? Alles nur, weil er damals zur richtigen Zeit auf der richtigen Beerdigung war?
Die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts ist auch eine Geschichte von persönlichen Bekanntschaften, zufälligen Begegnungen und seltsamen Querverbindungen. Mag es im nachhinein zwangsläufig erscheinen, daß sich bestimmte Künstler kennenlernten, andere aber nicht, und wieder andere sich nach jahrelanger Kollaboration irgendwann verkrachten: Tatsächlich dürfte es meist schlichter Zufall gewesen sein, daß die richtigen Leute zur richtigen Zeit aufeinandertrafen. Zumindest in Büchern können die mannigfaltigen Kontakte zwischen Künstlern oder Architekten gar nicht richtig dargestellt werden, weil Bücher eben nicht gut vielfältige Verbindungen darstellen können, da sie linear von A nach B erzählen.
Anders die CD-ROM. Hier kann man per Mouse-Klick über sogenannte „Hyper-Links“ von A nach F nach Y und wieder zurückspringen oder, wie im Fall der vorliegenden Produktion, von Neutra zu Sullivan zu Wright und wieder zurück zu Neutra. Die CD-ROM „Visionäre im Exil“ zeichnet die verschlungenen Pfade nach, die einige österreichische Architekten zwischen 1910 und 1940 in den USA einschlugen. Deren bekannteste sind Rudolf M. Schindler und Richard Neutra, die von ihrem Landsmann Adolf Loos beeinflußt worden waren und bereits in den zwanziger Jahren nach Nordamerika gingen, um mit Frank Lloyd Wright zu arbeiten.
Sie schufen in Kalifornien – beeinflußt von Wright, der europäischen Moderne, aber auch von den traditionellen Bauweisen der Indios – einen eigenen Stil, dessen Bauten bedingungslos modern waren. Im Gegensatz zu vielen europäischen Avantgarde-Architekten dieser Zeit gelang es ihnen, bei ihren billigen, unprätentiösen Bauten eine Balance zwischen Architektur und Natur herzustellen. Eine ganze Reihe dieser Häuser wurden in die steilen Hügel von Los Angeles hineingebaut.
Zu den „Visionären im Exil“ gehörten aber auch viele österreichische Juden, die in den dreißiger und vierziger Jahren unfreiwillig ihre Heimat verlassen mußten. Sie konnten in den USA oft nicht an ihren Erfolg der Vorkriegszeit anknüpfen und gerieten in Vergessenheit.
So leistet „Visionäre“ zum Teil Pionierarbeit, wenn zum Beispiel an Joseph Wlach erinnert wird, der in den fünfziger Jahren vollkommen vergessen in einem Altenheim in Brooklyn starb. Von seinem Kollegen Arthur Grünberger war nicht mal mehr ein Foto aufzutreiben. Auch Leute wie Simon Schmiederer, der in den fünfziger Jahren ganz Puerto Rico mit amerikanischen Fertighäusern vollbaute, oder Victor Gruen, der als Vater der amerikanischen shopping mall gelten kann, sind in Europa wenig bekannt.
Andererseits enthält die CD- ROM ausführliche Präsentationen von einigen der wichtigsten Architekturleistungen des 20. Jahrhunderts. Dazu gehören etwa Neutra Lovells Health House in Los Angeles, der Entwurf für den Völkerbund-Palast von Schindler und Neutra oder die New Yorker New School for Social Research von Friedrich Kiesler. Diese Projekte können nun wesentlich besser gezeigt werden als in herkömmlichen Katalogen.
Bislang war die ansprechende Präsentation von Architektur ein „Medienproblem“, wie der Kunsthistoriker Matthias Boeckl in einem der CD-ROM beiliegenden Booklet schreibt. Doch auf eine CD-ROM können nicht nur alle möglichen Bilder, Pläne, Zeichnungen, Filmschnipsel und Fotos gepackt werden; durch die „Vernetzungen“, die das Medium erlaubt, lassen sich auch leicht Bezüge zu anderen zeitgeschichtlichen, kunsthistorischen, technologischen und philosophischen Entwicklungen herstellen.
Die Wiener Science Wonder Productions hat das vielfältige Material zu einer leicht bedienbaren CD-ROM zusammengefügt, an der alles stimmt, vom Screen Design bis zur dezenten, nie nervenden Musikuntermalung mit zeitgenössischen Instrumentals: eine solide, gutaussehende Produktion über die seltsamen Verbindungen, die in einem (Künstler-)Leben zusammenkommen können. Tilman Baumgärtel
„Visionäre im Exil – Österreichische Spuren in der modernen amerikanischen Architektur“. CD-ROM für Windows-PC und Mac, Science Wonder Productions, ca. 100 DM
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