■ Normalzeit: Gloria Victoria!
Lange Zeit dachte ich, im Gegensatz zu dem eher rohen Volksvergnügen Zoo sei der Botanische Garten eine echte Volksbildungsanstalt, aus der man als besserer Mensch wieder ins Freie trete: kaum Lärm, edle Gerüche, gebildete Menschen, die zwischen den Rabatten über Pflanzen parlieren und sich alle paar Meter über eine neue freuen.
So nimmt es denn auch nicht wunder, wenn der Botanische Garten von wissenden grauhaarigen Damen aus Steglitz und Dahlem dominiert wird, die alle floristischen Topereignisse im voraus kennen: Wann der Kuchenbaum blüht oder neulich die Agave und der Bambus und derzeit die große Wasserrose Victoria, derentwegen der Garten derzeit bis 22 Uhr geöffnet hat.
Im Sumpfpflanzen-Gewächshaus herrscht eine Atmosphäre gespannter Vorfreude, wie wenn der Papst ein Kloster besucht.
Während man sich nebenan schon mal das Öffnen der Blütenkelche in einem Video anschaut, liest eine Frau einer anderen fast flüsternd aus ihrem Maeterlinck vor – über die Vallisneria, eine Hydrocharidee: „Die Natur hat dieses eher unansehnliche Gewächs zur Trägerin eines schönen Gedankens gemacht. Ihr ganzes Dasein vollzieht sich im Wasser, in einer Art Halbschlaf, bis zur hochzeitlichen Stunde. Dann rollt die weibliche Blüte langsam die Spirale ihres Stiels auf, steigt und taucht empor, schwimmt auf der Oberfläche des Teiches und entfaltet ihren Kelch.
Die männlichen Blüten steigen ihr hoffnungsvoll hinterher. Aber auf halbem Wege sehen sie sich plötzlich festgehalten: ihr Stengel, der Quell ihres Lebens, ist zu kurz. Sie werden nie das Licht des Tages erblicken, das einzige, in dem die Vereinigung des Stempels mit den Staubfäden stattfinden kann.
[...] Gibt es in der Natur eine grausamere Unachtsamkeit oder Prüfung? Sie wäre unlöslich wie das Drama unseres eigenen Erdenlebens, hätten die männlichen Blüten nicht vielleicht ein Vorgefühl ihrer Enttäuschung. Jedenfalls umschließen sie mit ihrem Kelch eine Luftblase, wie man in seinem Herzen einen Gedanken an verzweifelte Befreiung hegt. Sie zaudern anscheinend einen Augenblick, dann machen sie eine prächtige Kraftanstrengung, die übernatürlichste, die ich in der Geschichte der Insekten und Blumen kenne, um sich zum Glück zu erheben: sie zerreißen freiwillig das Band, das sie ans Dasein kettet.
Sie reißen sich von ihrem Stiel los, und mit unvergleichlichem Aufschwung, von Perlen des Frohsinns umgeben, durchbrechen ihre Blütenblätter die Wasseroberfläche. Zu Tode getroffen, aber strahlend und frei, schwimmen sie eine kurze Weile neben ihren sorglosen Bräuten; die Vereinigung vollzieht sich, und die Geopferten gehen unter...“
Eine schöne Geschichte, seufzt die Freundin der Vorleserin und schaut wieder auf die Victoria- Blüten, die sich aber heuer nicht entfalten mögen. „Wahrscheinlich erst gegen Morgen“, weiß eine andere Besucherin. Man geht noch einmal feierlich ums Becken und tritt dann ins Freie. Auf dem Rasen spielt ein halbwüchsiger Fuchs mit einer Maus. „Es gibt vier Füchse im Botanischen Garten“, weiß die Vorleserin, „einer war gestern in der Morgenpost abgebildet.“
Der Fuchs hat keine Angst, fast streift er unsere Beine, als er sich ins Gebüsch trollt. Im Botanischen Garten ist alles friedliches Witwendasein mit gut abgefederter Rente unter sanft sich im Wind bewegenden Blättern! Helmut Höge
wird fortgesetzt
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