: Easy Rider in Alt-Schadow
Zwei junge Berliner Regisseure wollen das Kino wieder aufs Land bringen – aber da regnet es, und die Leute haben andere Sorgen ■ Aus Alt-Schadow Jana Simon
Am Tag, an dem der Film nach Alt-Schadow zurückkehren soll, regnet es in Strömen. Vor dem Fünfzigerjahre-Flachbau fegt ein alter Mann den Vogeldreck weg. Schwalben haben sich an der Lampe des Vorraums ein Nest gebaut. In den Kino-Schaukästen preist ein Schrotthändler seine Dienste an. Am Inventar des Kinosaals sind die letzten Jahre spurlos vorübergegangen. Gelblichgrüne Mustertapete, brauner PVC-Bodenbelag und die Stuhlreihen, Marke Hartholz – ein Stück konservierte DDR.
„Das Kino hat sich nach der Wende nicht mehr rentiert“, sagt Jürgen Schultka, der Bürgermeister von 280 Alt-Schadowern. Den Vorführraum nutzt die Gemeinde für Abwassersitzungen. Das ist heutzutage das große Thema in Brandenburg. Bis vor kurzem befand sich noch der Kindergarten im linken Flügel des Hauses. Doch der mußte auch geschlossen werden – wegen Kindermangels. Der Glanz Hollywoods verließ Alt- Schadow fast unbemerkt. So wie er viele Dörfer verließ: 1983 gab es noch 144 Kinos in Brandenburg, heute sind es 58.
Stefan Trampe und Jens Alpermann, zwei Berliner Regiestudenten, stehen vor dem Kino, das einmal der Mittelpunkt des Orts war. Seit zwei Wochen touren die beiden mit dem Projekt „Film aufs Land“ im Süden Brandenburgs durch die Dörfer, in denen es keinen Kinobetrieb mehr gibt. Veranstaltet und finanziert wird die Kino-Land-Tour vom Filmverband und dem Land Brandenburg. Schon letztes Jahr wurde so versucht, das Landkino der 50er und 60er Jahre wiederaufleben zu lassen. Geblieben ist viel Frust. „Einerseits beklagen sich die Leute, daß nichts los ist. Aber wenn was los ist, gehen sie nicht hin“, sagt Trampe.
Dabei wäre Alt-Schadow wie geschaffen für cineastische Großereignisse. Fast tausend Urlauber von den Campingplätzen könnten die Kinobänke krachen lassen. Doch es kommt anders. Zur Nachmittagsvorstellung um 17 Uhr verirren sich gerade mal 22 Kinder in den spätsozialistischen Saal. Am Film kann es nicht liegen: Der Umweltkrimi „Die Spur der Roten Fässer“ ist brandneu und eine Art moderne Fassung von „Emil und die Detektive“. Für die Abendvorstellung haben Trampe und Alpermann „Easy Rider“ mitgebracht.
Sie haben sich vorher überlegt, welche Filme sie den Brandenburgern zumuten können. „Wir hätten auch ganz nach unserem Geschmack nur Fellini und Antonioni spielen können, aber wir wollten ja hier keine Selbstbefriedigung betreiben. Da haben wir den Mittelweg gewählt zwischen dem absoluten Hollywoodschmalz und dem, was wir noch vertreten können.“ Vertreten können sie die Palette vom Bus-Thriller „Speed“ über „Die Spur der Steine“ bis zum Hippiekultfilm „Easy Rider“ eben.
Daß aber auch zu Kinoerfolgen wie „Männerpension“ sich oftmals nur wenige Dörfler von ihrem Fernseher trennen können, erklären die beiden Jungregisseure sich ganz Tarkowski-like mit der weitverbreiteten „Lethargia“. Das Bedürfnis nach Kino sei vorhanden, sagen sie, nur müßte es einfach für jeden klar erkennbar und regelmäßig stattfinden. Und die Zeiten sind vorbei. Früher ging man öfter mal ins Kino in Alt-Schadow, und mindestens einmal im Jahr lief „Cat Ballou – Hängen sollst du in Wyoming“. Und das war dann ein Ereignis für das ganze Dorf. Die Leute erinnern sich mit glänzenden Augen.
Alt-Schadow liegt zwischen Seen und romantischen Alleen, kein Industrieschlot verschandelt die Landschaft. Es gibt nur Fischer, Imker, Heizungsmonteure und Schmiede. An der „Einkaufsquelle“ hängt das Plakat: „Heute 20.00 Uhr Easy Rider im alten Kino“.
Drinnen herrscht zwei Stunden vor Vorstellungsbeginn reger Betrieb. Die Frau des Schmieds, eine lebendige Blondine in den Vierzigern, die gerade bezahlt, interessiert sich wenig für die Langhaarigen mit ihren Idealen von Love, Peace and Happiness. Sie müsse früh ins Bett. Und überhaupt gebe es für ruhige Pärchen in ihrem Alter keine niveauvolle Möglichkeit wegzugehen, beschwert sie sich. Niveauvoll fände sie ein gutes Restaurant oder ein nettes Tanzlokal.
Die Einheimischen sind damit beschäftigt, ihr tägliches Leben zu bewältigen. Bei fast 20 Prozent Arbeitslosigkeit ist das nicht einfach. Die Kassiererin, Helga Kuppke, klagt: „Ich traue mich ja schon nicht mehr, jemanden einzuladen. Aus Angst, ich könnte etwas haben, was der nicht hat – denn dann kommt der Neid.“ Ihr Laden lebt fast nur von den Urlaubern. Die Dorfbewohner fahren 25 Kilometer in den nächsten Billiggroßmarkt. Sorgen ums Geld macht sich auch Bürgermeister Schultka. „Die Jungen gehen alle weg“, sagt er. Das werde die Gemeindekasse irgendwann spüren. Normalerweise ist Schultka kein Pessimist. Der 33jährige Naturwart war von der Kinoidee begeistert. Unermüdlich prophezeit er: „Die Bude wird heute abend voll.“
Auf ihrer Reise durch die Provinz haben Trampe und Alpermann das anders erlebt. In Schwarzheide kamen elf Menschen zu „Dead Man“ mit Teenie- Idol Johnny Depp. Sechs Jugendliche in Markenklamotten diskutierten vorher eine halbe Stunde darüber, ob sie die 5 Mark Eintritt bezahlen sollten. Drinnen ließen sie sich mit 4 Litern Bier zulaufen. Bei demselben Film in Herzberg forderten Zuschauer bei einer Szene, in der jemandem der Kopf zertreten wird, lauthals: „Zurückspulen!“ In Falkenberg kam nur eine sechsköpfige Familie zu „Männerpension“. Sie hatte zwei Freikarten vom regionalen Fernsehen gewonnen. In Zaue wollte ein geldgeiler Kneipenbesitzer in der Pause die Kinotür verriegeln, damit auch ja kein Zuschauer entwische. Wenigstens teilweise entschädigt wurden die beiden in Kroppen. Dort kamen über hundert Menschen zu „Speed“. Nach 20 Minuten fing es an zu regnen, und die Vorstellung mußte abgebrochen werden. „Da saßen die Leute teilweise noch eine halbe Stunde und haben gehofft, daß es weitergeht“, seufzt Trampe.
In Alt-Schadow werden normalerweise abends um acht die Bürgersteige hochgeklappt, und jeder verzieht sich hinter seine eigene Gardine. Vor dem Kino stellen Trampe und Alpermann zu dieser Zeit fest, daß die „Hippies“ von heute im Durchschnitt 14 sind, adidas-Turnschuhe tragen und in Erwartung eines amerikanischen Actionfilms vom Zeltplatz zu ihnen rüberkommen. Alpermann versucht sie zu warnen: „Nach dem Film wollt ihr Joints, eine Harley und freie Liebe, aber das geht hier wohl nicht.“ Ein 12jähriger aus Dresden mit Bürstenhaarschnitt antwortet: „Wieso? Hier gibt's doch keine Polizei.“
Als herauskommt, daß der Film von 1969 ist, fragt ein 15jähriger entsetzt: „Ach du Scheiße, ist der etwa in Schwarzweiß?“ Fünf Kinder aus Alt-Schadow, die eher in die Nachmittagsvorstellung gepaßt hätten, „ziehen sich lieber was für Erwachsene rein als solchen Kinderkram“. Außerdem wäre heute „eh nichts im Fernsehen gekommen“. Ihre Eltern sind zu Hause geblieben, die hätten keine Lust gehabt. Der Bürgermeister und seine Frau und eine Familie in Jogginganzügen sind mit Abstand die Ältesten im Kino.
Für die zukünftigen Regisseure ist ihr Landtrip ein harter Zusammenstoß mit der Realität. Die Filme, die sie machen wollen, werden kein Millionenpublikum begeistern, stellen sie selbstkritisch fest, dann ihre Werke spiegeln eher – die oft graue Wirklichkeit. Trampes Diplomfilm „Der Kontrolleur“ handelt von einem Ex- DDR-Grenzer, der auch nach dem Zusammenbruch seines Staates nicht aufhören kann, seiner Berufung, dem Kontrollieren, nachzugehen. Das endet tragisch. Und wenn schon zu den Kassenknüllern keiner kommt, wer käme dann zu den eher nachdenklichen Streifen zweier unbekannter Absolventen?
Immerhin vierzig Menschen trotzen heute abend dem Regen und den widrigen Bedingungen. Die Luft im Vorführraum erinnert Trampe „an das Alfred-Brehm- Haus im Tierpark“. Und die Akustik läßt die Dialoge nur erahnen. Zum Glück wird in „Easy Rider“ sowieso nicht viel gesprochen. Schon vor Beginn des Films fordern die hinteren Reihen des Kinos „Porno! Porno!“. „Born to be wild“ singen sie lautstark mit. Ansonsten interessiert sich das junge Publikum wenig für Peter Fonda und Dennis Hopper auf ihren Motorrädern. Während der langen dialoglosen Szenen entwickelt die Menge im Zuschauerraum eine tumultartige Eigendynamik.
Die meisten haben einen Film wie „Terminator“ erwartet. Da erscheint ihnen der Kultfilm der Siebziger ungefähr so interessant wie Rotkäppchen. Für die Kids sind die Träume oder das Lebensgefühl der Generation ihrer Eltern etwa so weit entfernt wie der Mars. In der Pause bringt der 14jährige Marius die Sache auf den Punkt: „Da ist es ja spannender, 'ne Currywurst mit Ketchup zu essen.“ Andreas aus Fürstenwalde fand „Emanuelle“ gestern nacht auf Pro Sieben wesentlich besser als das hier.
Nach der Pause sitzen nur noch dreißig Leute im Saal. Auch die Frau des Bürgermeisters wird vermißt. Trampe und Alpermann retten sich in Galgenhumor: „Wenn wir den Film morgen im Freien zeigen, müssen wir vorher die Kasse mitnehmen und verschwinden. Sonst werden wir gelyncht.“ Trotzdem wollen sie auch nächstes Jahr den Film aufs Land bringen. Dann vielleicht in eine andere Gegend. Eins ist nämlich sicher: In Alt- Schadow gibt es keine Hippies.
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