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Aus Mangel an Beweisen

Im Januar brannte in Lübeck ein Haus. Zehn Menschen starben, 38 wurden verletzt. Flüchtlinge, die in der Bundesrepublik Schutz gesucht hatten. Hat Safwan Eid den Brand gelegt? Die Staatsanwaltschaft glaubt es. Am 16. September wird gegen den jungen Libanesen der Prozeß eröffnet. Doch die Beweislage ist dürftig, die Gutachter streiten, und die Zeugen widersprechen sich. Den Spuren der Ermittlungen folgte  ■ Bascha Mika

Die Mörder sind unter uns. In einer Nacht im Januar zündeten sie in Lübeck ein Haus an. Zehn Kinder und Erwachsene erstickten, verkohlten, stürzten sich zu Tode. Vielleicht war der Täter allein, vielleicht hatte er Komplizen. Vielleicht kam er von außen, vielleicht auch von drinnen. Vielleicht haßte er Ausländer, vielleicht ärgerte er sich über seine Mitbewohner.

Sechs Monate sind seit dem Anschlag auf das Flüchtlingsheim in der Lübecker Hafenstraße vergangen. Berge von Akten haben die Fahnder produziert, zig Gutachten erstellen lassen, mehr als 100 Zeugen vernommen. Fleißig waren sie ja. Doch wahrscheinlich wird das Verbrechen nie aufgeklärt werden, bekommen die Opfer noch nicht einmal die Genugtuung der Rechtsstaatlichkeit. Weil die Täter nicht ermittelt werden, weil ihnen nichts bewiesen werden kann, weil alles im Sande verlaufen wird.

Aktenzeichen: 702 Js 2026/96. Vorwurf: Besonders schwere Brandstiftung.

Am 19. September wird die Jugendkammer des Landgerichts Lübeck das Verfahren gegen Safwan Eid eröffnen. Die Staatsanwaltschaft ist überzeugt, daß der 20jährige Libanese den Brand gelegt hat. Doch ihre Ermittlungsergebnisse, die sie im Prozeß präsentieren wollen, haben die Jugendrichter bereits im Vorfeld zerpflückt: Weder das Tatmotiv sei klar, noch wann, wo und wie das Feuer entstanden sei, außerdem bleibe ein Todesfall im Haus gänzlich rätselhaft.

Zehn Tage soll die Verhandlung dauern. Dutzende Vorladungen müssen verschickt werden. Mehrere Brandgutachter und Gegengutachter werden auftreten und sich um die zutreffende Analyse streiten. Verschiedene Dolmetscher müssen sich um die richtige Übersetzung von abgehörten Gesprächen aus dem Arabischen mühen. Die Verteidigung wird den Anklägern politische Motive unterstellen und die werden – wie bisher – pampig reagieren und stur an offenkundigen Widersprüchen festhalten. Die Chance, im Prozeß der Wahrheit nahezukommen, ist denkbar gering. Daß es für eine Verurteilung reicht, glaubt eingentlich nur noch die Staatsanwaltschaft. Freispruch – aus Mangel an Beweisen?

Weitere Beschuldigte gibt es bisher nicht. Das Gericht kann Recht sprechen, nicht selbst nach möglichen Tätern suchen. Das ist Aufgabe der Staatsanwaltschaft. Und die hat sich sehr früh auf Safwan Eid als Verdächtigen festgelegt; nur sechs Tage nach seiner Verhaftung wurde die 50köpfige Sonderkommission um mehr als die Hälfte reduziert.

Wichtigster Belastungszeuge ist der Rettungssanitäter Jens L. Ihm soll der junge Libanese gestanden haben: „Wir waren's ... Wir hatten Streit mit einem Familienvater. Wir wollten uns dafür rächen. Wir haben dann Benzin an die Tür gekippt, angezündet, und dann ist das brennend die Treppe runtergelaufen, und mit einem Mal stand die Treppe in Flammen.“ Safwan Eid bestreitet das Gespräch zunächst. Später gibt er zu, sich mit Jens L. unterhalten zu haben; den belastenden Inhalt habe der Sanitäter aber komplett erfunden.

Trotz diverser Widersprüche halten die Staatsanwälte L. für einen seriösen Zeugen. Dies könnte sich als Schwachpunkt der Anklage herausstellen. Desweiteren soll Safwan Eid „Täterwissen“ gestanden haben, da er Ort und Art des Brandausbruchs wußte. Im angeblichen Geständnis nannte Eid jedoch kein Stockwerk; kein Gutachter fand Reste von Benzin, schon gar nicht an einer Tür. Umstritten ist unter den Gutachtern auch, ob ein Brandbeschleuniger die Treppe hinuntergelaufen sein könnte. Und schließlich dementieren die Bewohner des Brandhauses, daß es Streitereien gegeben hat. Um dem Untersuchungshäftling auf die Schliche zu kommen, ließ die Staatsanwaltschaft nach Paragraph 100c Strafprozeßordnung vier Gespräche zwischen Safwan Eid und seiner Familie abhören. Rechtlich eine höchst problematische Aktion, denn Familienangehörige haben ein Aussageverweigerungsrecht. Derselbe Richter, der dies genehmigte, bestätigte im Frühjahr den „dringenden Tatverdacht“ gegen Eid und verlängerte den Haftbefehl – wie sonst hätte er das Manöver rechtfertigen können?

Die Anklage stützt sich auf diese mitgeschnittenen Gespräche, deren Übersetzung mehr als kryptisch ist. Verdächtiges Material glauben die Staatsanwälte vor allem beim ersten Lauschangriff entdeckt zu haben. Es handelt sich um eine Unterredung zwischen Safwan Eid und seinem Bruder Bilal. Es ist die einzige, bei der kein Dolmetscher anwesend war; Safwan und Bilal unterhielten sich auf arabisch.

Dabei hat Safwan Eid die folgende, angeblich belastende Aussage gemacht:

Wenn er den Koran lese, erkenne er seine Fehler. Er habe seine Fehler erkannt. Er wisse, was er mit oder im Gebäude gemacht habe.

Der Dolmetscher des Bundeskriminalamtes interpretiert diese Stelle als Schuldeingeständnis von Safwan Eid. Es sei orientalische Mentalität, eine persönliche Verfehlung so zu umschreiben. Andere Teile des Gesprächs widersprechen dieser Deutung. Denn Safwan Eid hat auch mehrmals gesagt: Bei Gott, er sei unschuldig. Und: Wie könne er jemanden töten, er sei unschuldig.

Die Tonqualität des Mitschnitts ist sehr schlecht. Ein zweiter, unabhängiger Dolmetscher, dem die Bänder auszugsweise vorgespielt wurden, sagt, er habe durchschnittlich die Hälfte, teilweise aber nur ein Drittel verstanden.

Safwan Eid will an dieser Stelle etwas anderes geäußert haben:

Wenn er den Koran lese, erkenne er seine ganzen Fehler, und er wisse, warum sein Gott es so mit ihm mache.

Weitere inkriminierende Sätze, gesprochen von Bilal Eid, wurden vom Dolmetscher folgendermaßen verstanden:

Niemand könne gegen ihn beweisen. Er habe alle zum Schweigen gebracht. Alle Leute seien gekommen und hätten ihre Zeugenaussagen verglichen, alle.

Als ihm das Band vorgespielt wird, versteht Safwan Eid aber folgendes:

Keiner könne gegen ihn beweisen mit Gottes Willen. Alle Welt sei mit ihm und habe Zeugnisse abgegeben.

Wie schwierig die Auswertung der Gespräche ist, zeigt sich besonders drastisch an folgendem Beispiel. Der Untersuchungsgefange erhielt Besuch von seinem zweiten Bruder Mohamed. An einer Stelle des Tonbandes, so der amtliche Übersetzer, habe Safwan Eid gesagt: Gott möge dem auch helfen. Gott solle ihm verzeihen. Der unabhängige Übersetzer und Eid selbst hören: Gott möge ihm helfen, dem auch. Sonst nichts. Weder die beiden noch Eids Anwalt können auf dem Band einen weiteren Satz vernehmen.

Die mitgeschnitten Gespräche sind äußerst schwierig – zu verstehen, zu übersetzen und erst recht sinnvoll zu deuten. Ob die Anklage wirklich glaubt, mit diesem Material und mit nur einem Belastungszeugen den Libanesen der Tat überführen zu können?

Der ermittelnde Staatsanwalt ist Michael Böckenhauer, sein Vorgesetzter und Pressesprecher der Behörde heißt Klaus-Dieter Schultz. Selbst in Lübecker Justizkreisen wird behauptet, daß die beiden Staatsanwälte sich „verrannt“ hätten. Der Vorwurf gilt vor allem Schultz. Er wolle sich mit diesem Fall „profilieren“.

Man muß den Ermittlern kein politisches Kalkül unterstellen, um sich über ihre Arbeit zu wundern. Nehmen wir den Fall Sylvio Amoussou. Die verkohlte Leiche des Afrikaners befand sich im hölzernen Vorbau des Brandhauses. Auf ihr und teilweise mit ihr verhakt lag ein dünner Draht. Amoussou ist nicht durch Rauch oder Feuer gestorben, sondern bereits zuvor. Sein offenbar plötzlicher Tod läßt sich nicht mit dem Brandverlauf vereinbaren, wie ihn die die Staatsanwälte rekonstruierten. Wodurch ist Amoussou gestorben? Warum der Draht? Hätte das die Ermittler nicht dringend interessieren müssen? Hat es nicht. Erst im Mai, nachdem öffentlich über eine „gefesselte Leiche“ spekuliert wurde, fragten sie bei der Gerichtsmedizin nach. Die hat bisher immerhin festgestellt, daß der Draht locker um die Leiche herumgebunden war, daß es keine Hinweise auf eine Fesselung gebe, sondern der Draht wahrscheinlich mit Brandschutt heruntergefallen sei. Die Todesursache ist nach wie vor unklar. Nehmen wir die Grevesmühlener. Zunächst hatten die Ermittler die vier Ostdeutschen der Mordbrennerei verdächtigt. Doch bereits einen Tag nach dem Anschlag wurden die Jungmänner wieder freigelassen. Drei von ihnen hatten frische Sengspuren im Gesicht.

Hätte dies die Staatsanwälte nicht alarmieren müssen? Hat es nicht. Nur einer der Männer wurde noch im Polizeigewahrsam nach der Ursache der verbrannten Haare befragt. Erst zweieinhalb Monate später, Anfang April, vernahmen sie die beiden anderen.

Die drei gaben dubiose Erklärungen für ihre Sengspuren ab. Wiederum kamen die Ermittler erst Monate später auf die Idee, die Angaben zu überprüfen. Der Kanister, in den René B. Benzin abgefüllt haben will, wurde vor gut zwei Wochen sichergestellt. Das Auto, das Dirk T. angeblich abgefackelt hat, ließen sich die Beamten auch erst in diesem Monat zeigen. Welche Spuren wollen die Ermittler nach einem halben Jahr noch finden?

Nehmen wir die Aussagen der Beamten vom Bundesgrenzschutz. Sie waren mit ihrem Streifenwagen die ersten am Brandort. Anschließend gaben sie zu Protokoll, daß es in dem Holzvorbau des Eingangs Funken gesprüht habe. Doch als sie abermals befragt wurden, berichteten sie nur von Flammen im ersten Stock und sagten, daß es im Eingangsbreich des Hauses nicht gebrannt habe. Woher dieser Widerspruch? Niemand hat sie danach gefragt. Die erste Aussage deckt sich nicht mit der Theorie der Staatsanwaltschaft über den Ort des Brandausbruchs. Die zweite schon.

Die Liste der kleinen und großen Ungereimtheiten ließe sich fortsetzen. Zehn Menschen sind umgebracht worden. Ist das nicht Anlaß genug, jeder, aber auch jeder Spur nachzugehen? Die Mörder sind schließlich unter uns.

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