■ Bonn apart
: Bedenkliche Erlebnisse

Der gute Mensch Rudolf Scharping hat innerhalb eines Jahres zwei einschneidende Erlebnisse hinter sich. Das erste war: Der Bart kam ab. Nach der Niederlage gegen Oskar Lafontaine um den SPD-Parteivorsitz hatte er sein Gesicht verloren, er brauchte ein neues, und warum nicht eins nehmen, in dem nicht die Bratensoße kleben bleibt? Der Nachteil: Seitdem ist seine Mimik schutzlos den Blicken seiner Mitmenschen ausgeliefert. Das verwirrt ihn möglicherweise. Das zweite traumatische Erlebnis war der Fahrradunfall. Leichte Schläge auf den Hinterkopf erhöhen das Denkvermögen, heißt es. Es handelte sich nicht um einen leichten Schlag.

Also sprach Rudolf Scharping: „Das Thema 218 verbietet sich für taktische Spielereien.“ Ein schöner Satz, ein wahrer Satz, man möchte dem SPD- Fraktionschef die Hand dafür schütteln und sich bedanken. Geläutert durch Niederlagen und Stürze macht er sich offenbar zum Anwalt für Fairness und Anständigkeit. Doch dann spricht er weiter: Die CSU, sagt er, und seine Stimme grollt, halte sich aber nicht daran. Es habe den Anschein, als gehe sie bei 218 nur deshalb auf Konfrontationskurs, um die katholische Kirche ruhigzustellen, die mit dem Sparpaket der Koalition gar nicht einverstanden ist. Grundsätzlich ist der CSU ja alles zuzutrauen: Miniröcke verbieten, damit geile Autofahrer nicht gegen Bäume fahren; Schulkindern vorschreiben, das Kreuz Christi um den Hals zu tragen, oder das Grundgesetz um den Artikel erweitern: Soldaten sind Pazifisten. Doch sich durch Verschärfungen beim 218 Absolution bei der Kirche für das Durchpauken des Sparpakets erteilen zu lassen? Das scheint selbst für die CSU zu durchtrieben. Hat Rudolf Scharping etwa selbst ein taktisches Spielchen mit 218 getrieben?

Wir erinnern uns an eine andere Begebenheit: Also sprach Rudolf Scharping mit salbungsvoller Stimme: „Heute wende ich mich dem Problem der Sprache zu.“ Es sei eine Zumutung, wie die Koalition die SPD immer auf übertriebene Art und Weise verbal attackiere. Schon ein paar Minuten später beschimpfte er die Koalitionsparteien aufs heftigste. Das war nach der Rasur, aber noch vor dem Sturz. Sollte sich Rudolf Scharping also besser wieder einen Bart wachsen lassen – oder hatte er schon immer ein Problem mit der Scheinheiligkeit? Markus Franz