Freispruch nach neun Monaten Untersuchungshaft

■ Hauptbelastungszeugin gegen Lütfü G. verstrickt sich in zahlreiche Widersprüche

Sonja S. wird im September 19 Jahre alt. „Wie lange bin ich jetzt schon drauf“, fragt sie sich selbst und kommt auf „ungefähr drei Jahre“. Kurz zuvor hatte sie angegeben, seit fast einem Jahr clean zu sein. Hauptsächlich aus Widersprüchen bestand die Aussage der Hauptbelastungszeugin im Prozeß gegen Lütfü G. Für den wegen Körperverletzung und versuchten schweren Menschenhandels angeklagten 26jährigen endet die Berufungsverhandlung – nach neun Monaten Untersuchungshaft – am Freitag mit einem Freispruch.

Zu zweieinhalb Jahren Haft hatte das Amtsgericht den Angeklagten bereits verurteilt: Er habe die Zeugin zuerst mit Heroin versorgt und später mit einem Messer bedroht, um sie zum Anschaffen zu zwingen. Lütfü G. ging in Berufung und beteuerte, daß er Sonja S. geliebt habe und ihr helfen wollte, vom Heroin loszukommen – eine mit viel Pathos vorgetragene Geschichte, die ihm die weiblich besetzte Strafkammer des Landgerichts während der ersten drei Verhandlungstage kaum zu glauben schien (taz berichtete). Drei Wochen lang hatte das Gericht zudem vergeblich versucht, die Zeugin aufzufinden.

Sie sei mit ihren Eltern in Griechenland gewesen, sagt Sonja S., aber auch, daß ihre Hausärztin ihr seit zwei Wochen ein Beruhigungsmittel verschreibt. Wogegen, wisse sie nicht. Und stimmt dem Anwalt von G. später zu, daß sie mit dem Medikament substituiert werde. Sie sagt, sie habe nur einmal Heroin gekauft bei dem Angeklagten, habe ihm nie ihre Telefonnummer gegeben, sei von einem Verwandten des Angeklagten vor zwei Monaten erst bedroht worden, damit sie ihre Anzeige zurückziehe.

Doch dieser „entfernte Cousin“ von Lütfü G. ist seit November in Haft, die Handschrift auf dem Zettel mit ihrer Telefonnummer identifiziert sie als ihre eigene, während anderer Vernehmungen hatte sie behauptet, wochenlang und jeden zweiten Tag Heroin vom Angeklagten bezogen zu haben. „Im Kernbereich“ habe die Zeugin sich jedoch nicht widersprochen, meint der Staatsanwalt zunächst. Den Tathergang habe sie stets gleich geschildert. Obwohl sie sich – im Gegensatz zu vorherigen Vernehmungen – an die Drohung des Angeklagten, er werde ihr sonst die Kehle durchschneiden, nach mehrmaliger Nachfrage erst dann erinnert, als die Richterin ihr dies wortwörtlich vorhält.

Von einer „im Kernbereich“ wahren Aussage sei aber nur dann auszugehen, sagt G.'s Anwalt, wenn die Widersprüche in den anderen Bereichen erklärbar seien – weil ein Zeuge Angst hat vor einer Strafverfolgung oder davor, sich unglaubwürdig zu machen. Bei der Zeugin Sonja S. seien nachvollziehbare Gründe jedoch nicht zu erkennen. Seinem Plädoyer auf Freispruch für seinen Mandanten schloß sich die Anklagevertretung letztlich an; die Strafkammer folgte dem in ihrem Urteil. Gegen Sonja S. wird die Staatsanwaltschaft nun wegen falscher uneidlicher Aussage ermitteln.

Stefanie Winter