Die türkische Regierung lenkt endlich ein

Der Hungerstreik der politischen Gefangenen in der Türkei ist zu Ende. Er kostete bisher zwölf Menschen das Leben. Viele Hungerstreikende schweben noch in akuter Lebensgefahr  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Am 69. Tag ist der Hungerstreik der politischen Gefangenen in der Türkei zu Ende gegangen. Nach dem 11. Todesfall im Hungerstreik war der türkische Justizminister auf die Forderungen der Gefangenen eingegangen. Dutzende Hungerstreikende, die in Lebensgefahr schweben, wurden in der Nacht in Universitätskrankenhäuser eingeliefert. Für Hayati Can im Gefängnis Bursa kam die Hilfe zu spät. Er starb unmittelbar nach Ende des Hungerstreiks im Krankenhaus. Weitere Todesfälle sind nicht ausgeschlossen. Viele Gefangene werden bleibende Gesundheitsschäden davontragen. Am Samstag waren der 31jährige Osma Akgün und der 28jährige Yemliha Kaya in Istanbul und der 24jährige Hicabi Kücük in Bursa gestorben.

Das Ende des Hungerstreiks, an dem über 1.500 politische Gefangene teilnahmen, wurde in der Nacht auf Sonntag vor dem großen Istanbuler Gefängnis Bayrampasa bekanntgegeben. Auf Wunsch des Justizministers hatten sich Intellektuelle und Politiker, die das Vertrauen der Hungerstreikenden genießen, ins Gefängnis Bayrampasa begeben. Der Schriftsteller Yasar Kemal, der Komponist Zülfü Livaneli und der vor wenigen Monaten aus dem Gefängnis entlassene Rechtsanwalt Esber Yagmurdereli gehörten ebenso zur Delegation wie sozialdemokratische und islamistische Abgeordnete. Yasar Kemal hatte noch kurz zuvor den Justizminister beschuldigt, einen „heiligen Krieg“ gegen die Hungerstreikenden zu führen. Diese Delegation, zu der sich als amtlicher Vertreter des Justizministeriums der Oberstaatsanwalt von Istanbul gesellte, überbrachte den Gefangenen die Zugeständnisse des Justizministeriums.

Alle 102 politischen Gefangenen, die sich in dem berüchtigten Gefängnis Eskisehir befinden, werden in Istanbuler Haftanstalten überführt werden. Die Schließung des Gefängnisses Eskisehir mit seiner berüchtigten Isolationshaft gehörte zu den wichtigen Forderungen der Gefangenen. Das Justizministerium ging ebenfalls auf die Forderung ein, Untersuchungsgefangene in Haftanstalten in Nähe des Wohn- und Gerichtsortes unterzubringen – eine zentrale Forderung der Gefangenen. Faktisch ist damit die Verfügung des ehemaligen Justizministers Mehmet Agar, die im Mai erlassen wurde und die der neue Justizminister Sevket Kazan in wesentlichen Punkten übernahm, außer Kraft gesetzt worden. Die Forderungen der Gefangenen waren ohnehin Minimalforderungen, die nach Ansicht vieler Juristen Teil eines humanen Strafvollzugs sind.

Daß elf Menschen sterben mußten, bevor der Justizminister die Forderungen erfüllte, hat auch innerhalb der regierenden islamistischen „Wohlfahrtspartei“ zu Konflikten geführt. Ministerpräsident Erbakan zog es vor, sich nicht zu äußern und die Verantwortung auf den Justizminister zu schieben, der „Tag und Nacht“ arbeite. Eine Reihe von islamistischen Abgeordneten kritisierte die Härte des Justizministers. Mit falschen Angaben zu den Forderungen der Gefangenen („Die wollen alle den Status von Kriegsgefangenen“) und zur Situation im Hungerstreik („Die Gefangenen streiken unter Zwang terroristischer Führer“) hatte er sich ins politische Abseits manövriert. Schließlich mußte er „Vaterlandsverräter“ wie Yasar Kemal und Sozialdemokraten, gegen die er vor drei Tagen noch ein parlamentarisches Ermittlungsverfahren einleiten wollte, weil sie die Gefängnisse „terroristischen Organisationen“ überlassen hätten, um Hilfe bitten. In den Medien wurde Kazan als „Mörder“ gebrandmarkt und für die brutalen Polizeieinsätze gegen verbitterte Familienangehörige verantwortlich gemacht. Damit habe er der Regierung Schaden zugefügt.

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