: Der Platzhirsch will nicht weichen
Zu guter Letzt haben ihn seine Landsleute doch noch ins Herz geschlossen: Carl Lewis stiehlt Michael Johnson mit seinem vierten Olympia-Gold im Weitsprung noch einmal die Schau ■ Aus Atlanta Matti Lieske
Endlich hatte Michael Johnson geschafft, wovon er lange geträumt hatte. Überlegen hatte er über 400 Meter seine erste olympische Goldmedaille gewonnen, die wiederum nur der Auftakt zu einem einmaligen Double sein sollte, das er „historisch“ zu nennen beliebt: Olympiasieg über 400 und über 200 Meter. Johnson schnappte sich die übliche US-Flagge und machte sich auf zu seiner wohlverdienten Ehrenrunde. Die Zuschauer, an denen er vorbeikam, jubelten ihm pflichtschuldigst zu, schließlich wird er seit Wochen als der leichtathletische Superstar schlechthin gefeiert.
Aber ganz waren die Leute nicht bei der Sache. Immer wieder wanderten ihre Blicke zur Anlaufbahn des Weitsprungs, wo ein angespannter Carl Lewis saß und inständig hoffte, daß seine 8,50 Meter, die er im dritten Versuch gesprungen war, zur Goldmedaille reichen mögen.
Als dann Weltrekordhalter Mike Powell leicht verletzt in seinen letzten Sprung gehen mußte und mit dem Gesicht statt mit den Füßen im Sand landete, als auch Joe Greene nichts mehr zulegen konnte, sprangen die 80.000 von ihren Sitzen auf und gebärdeten sich wie eine Teenagermeute einst bei Take That. Jeder Schwenker, den Lewis bei seiner Ehrenrunde mit der Flagge vollführte – und derer waren viele –, löste weitere Ovationen aus.
Zu guter Letzt haben ihn also auch seine Landsleute in ihr Herz geschlossen, die ihn 1984 in Los Angeles noch ausgepfiffen hatten, als er – wie auch diesmal – auf seinen letzten Sprung verzichtet hatte, nachdem sein Sieg feststand. „Das ist 12 Jahre, 16 Frisuren, 15 Pfund und viele Stunden harten Trainings her“, sagt Lewis, „ich denke lieber an das, was heute ist.“ Und heute könne er nicht mal mehr zur Tankstelle fahren, ohne daß ihm jemand „viel Glück“ wünsche.
Das Wünschen hat geholfen. Mit seinem vierten Weitsprung- Sieg bei seinen vierten Spielen schaffte er, was vorher nur dem Diskuswerfer Al Oerter gelang: vier Goldmedaillen in einer Disziplin. Insgesamt hat es Lewis jetzt auf neun Olympiasiege gebracht, was vor ihm lediglich die finnische Langstrecken-Legende Paavo Nurmi geschafft hat. Das sind Vergleiche, die ihm sichtlich behagen: „Es ist ein großartiges Gefühl, mit Athleten wie Nurmi oder Owens auf eine Stufe gestellt zu werden, und Kids vielleicht so zu inspirieren, wie diese Leute einst mich inspiriert haben.“
„Es wird Zeit, daß Carl Lewis Platz für jüngere Athleten macht“, hatte Michael Johnson in letzter Zeit häufig gesagt. Nun hat der verärgerte 35jährige auf seine Weise gekontert. Er stahl Johnson die Schau, so wie er es schon bei der Präsentation durch ihren gemeinsamen Sponsor zu Beginn der Spiele getan hatte. Da war zuerst Johnson auf die Bühne gekommen und hatte in seiner nüchternen, kühlen Art Fragen beantwortet, vage bemüht, ab und zu einen pointierten Satz zu sagen. Danach kam Lewis und sofort war Showtime angesagt. Gewohnt eloquent entwickelte er Pläne, wie man die Leichtathletik in den USA populär machen könne, durch hochkarätige Meetings in ausgewählten Städten nämlich. Er dozierte über den Kampf gegen Doping, erläuterte ausgiebig seine Befindlichkeit und lobte hinterlistig Michael Johnson.
Am Montag war der Ablauf ähnlich. Johnson spielte sozusagen die Vorgruppe für Lewis und durfte die Stimmung anheizen für den großen Auftritt des ungeliebten Konkurrenten, den keiner mehr erwartet hatte. Gerade dies habe ihm geholfen, sagt Lewis. „In 15 Jahren kannte ich nie das Gefühl, ein ganz normaler Athlet zu sein. Stets wurde der Sieg von mir erwartet. Hier war ich viel lockerer, viel freier, weil ich wußte, die Leute lieben mich auch, wenn ich verliere.“
Silbermedaillengewinner James Beckford aus Jamaika und Bronzemedaillist Joe Greene (USA) waren extra etwas eher zur Pressekonferenz gekommen. Das letzte Mal, so Greene, hätte Lewis eine Dreiviertelstunde geredet und er bloß stumm daneben gesessen. Dabei redet Greene selbst gern und hatte diesmal Zeit genug, sich in Lobeshymnen über den Sieger zu ergehen. „Er ist unglaublich“, sagte er über Lewis, „Weitsprung ist so hart. Ich bin 29 und fühle mich wie 60. Er ist 35 und gewinnt immer noch. Er ist ein großer Athlet.“
Dann kam der große Athlet in Person und fragte zunächst neckisch in die Runde: „Wie seid ihr aus meinem Traum herausgekommen?“ Greene machte sich eilig davon. Er wußte, daß er sowieso nicht mehr zu Wort kommen würde. Und Lewis begann zu plaudern. Der schönste Sieg sei es gewesen, weil er die meiste Arbeit und den größten Schmerz gekostet habe. Man wünsche, daß die olympische Erfahrung ewig währe, dennoch habe er gehofft, daß sein letzter olympischer Wettkampf so schnell wie möglich ende: „Nach dem dritten Sprung dachte ich: Laßt uns nach Hause gehen.“ Und an die Adresse von Michael Johnson: Niemand habe irgendjemandem Platz zu machen. „Es ist genug Platz für Allen Johnson, Michael Johnson, Charles Austin und Carl Lewis. Je mehr es sind, desto besser ist es für die Leichtathletik in den USA.“
Der Druck lastet jetzt mehr denn je auf Johnson, für dessen Double der Zeitplan geändert wurde. Sollte es nicht klappen, ist dem Mann mit den goldenen Schuhen der Spott der Kollegenschaft sicher. Doch ganz egal, ob Johnson die 200 Meter gewinnt oder nicht: Die Leichtathletikwettbewerbe von Atlanta werden immer als die in Erinnerung bleiben, bei denen Carl Lewis noch einmal, ein letztes Mal Gold gewann.
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