: Mit Kampagnen-Carl wär's nicht passiert
Der neunfache Goldmedaillengewinner Lewis gibt der 4 x 100-m-Staffel seinen Segen, doch der reicht nicht. Zum Olympiaabschluß verliert die USA ihre Goldbank an Bailey und Kanada ■ Aus Atlanta Matti Lieske
Als Bruny Surin den Stab an Donovan Bailey übergab, war es ziemlich still geworden im Olympiastadion zu Atlanta, das kurz zuvor von „USA, USA“-Rufen gebebt hatte. Das entsetzte Publikum wußte: Diesen Vorsprung des Schlußläufers der kanadischen 4 x 100-m-Staffel würde US-Sprinter Dennis Mitchell nie aufholen können. Knapp neun Sekunden später überquerte der Weltrekordler, Weltmeister und 100-m-Olympiasieger Bailey als Erster die Ziellinie (37,96 sec). Jedem einzelnen der 80.000 Zuschauer ging da wohl der gleiche Gedanke durch den Kopf: Mit Lewis wäre das nicht passiert.
Der Schock saß tief, und es dauerte geraume Zeit, bis sich die Mitglieder der Silbermedaillen-Staffel (38,05 sec) zu einer Ehrenrunde aufmachten, die vorzugsweise von Trotz geprägt war. Besonders heftig schwenkten sie unter dem höflichen Beifall der Zuschauer ihre Sternenbanner, um darüber hinwegzutäuschen, daß ihnen gerade eine eklatante Peinlichkeit unterlaufen war. Die ganze Woche lang war es nie darum gegangen, ob die USA die Staffel gewinnen werde, sondern ausschließlich darum, wer sie gewinnen dürfe.
Carl Lewis, in der US-Ausscheidung über 100 Meter krampfgeplagter Finalletzter und damit eigentlich aus dem Rennen, hatte keine Gelegenheit ausgelassen, um darauf zu verweisen, wie gern er in der Staffel laufen würde. Eine Teilnahme am gemeinsamen Training vor den Spielen in der Funktion eines Ersatzmannes hatte er allerdings entrüstet abgelehnt. Der überraschende Gewinn seiner neunten Goldmedaille im Weitsprung löste dann aber eine Flut von Appellen aus, ihn doch jetzt bitte auch sein zehntes Gold holen zu lassen. Es hätte ihn in der Olympia-Geschichte einzigartig gemacht.
Lewis wies den Vorwurf, er betreibe eine Kampagne, weit von sich. Es sei einfach so, daß ihn jeder frage, ob er denn gern in der Staffel liefe, und er würde bloß wahrheitsgemäß ja sagen. Dennoch fanden seine diesbezüglichen Aktivitäten nicht nur Zustimmung, sondern zogen auch Spott und Kritik auf sich. Charles Barkley solle doch einfach seinen Platz im Basketball- Dream-Team für ihn freimachen, wenn er so dringend sein zehntes Gold brauche, schrieb ein Zeitungskommentator, und vor allem die nominierten Läufer wollten von einem Lewis-Einsatz nichts wissen.
„Unfair gegenüber den Athleten, die sich den Platz erkämpft haben“, nannte es Jon Drummond, und Mitchell fand es sogar unfair gegenüber Larissa Latynina und Paavo Nurmi. „Diese Leute haben ihre neun Goldmedaillen verdient. Und wenn Carl eine zehnte will, muß er sie sich ebenfalls verdienen.“
Genau das fand auch Michael Johnson, der das Unheil kommen sah und sich für einen Start von Lewis aussprach: „Er sollte laufen. Nicht damit er sein zehntes Gold gewinnt, sondern weil die beste Staffel antreten muß. Und keiner hat mehr Erfahrung als Carl Lewis.“ Der Double-Olympiasieger, nicht gerade ein Freund des 35jährigen, sollte recht behalten.
Niemand weiß, ob die USA mit Lewis gewonnen hätten, aber schneller wären sie allemal gewesen. Tim Harden, der schlecht wechselte und den meisten Boden verlor, wäre draußen gewesen, Jon Drummond hätte den Stab an Mike Marsh übergeben, der an Dennis Mitchell, und dann wäre Carl Lewis gekommen, dessen Auftritte als Schlußläufer mit fliegendem Start stets von beeindruckender Fulminanz gewesen waren. Doch die Coaches entschieden anders und werden in der nächsten Zeit ihres Lebens kaum froh werden.
Die Kanadier lachten sich während der ganzen Debatte still ins Fäustchen. „Sie haben sich soviel damit beschäftigt, ob Carl Lewis in ihrem Team ist oder nicht, daß sie vergessen haben, daß auch andere Teams laufen“, sagte Donovan Bailey.
Eine derartige Zerstreutheit ist verständlich, wenn man sich die olympische Geschichte der 4 x 100-m-Staffel ansieht. Noch nie waren die USA in diesem Wettbewerb geschlagen worden. Bei 18 Olympischen Spielen gewannen sie 14mal, dreimal — 1912, 1960 und 1988 — wurden sie disqualifiziert, und 1980 in Moskau boykottierten die USA. „So lange waren die Amerikaner daran gewöhnt, Gold in der Staffel zu gewinnen“, sagte Mike Marsh, „aber keiner hat bemerkt, daß die Abstände kleiner und kleiner wurden.“
Zumindest Dennis Mitchell war trotz der Schlappe hochzufrieden. „Ich fühle mich wundervoll. Ich bin großartig gelaufen“, gab er bekannt und verriet, daß Carl Lewis vor dem Rennen zu den Läufern gekommen war: „Er hat uns seinen Segen gegeben.“ Nützlicher wären seine Beine gewesen.
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