Debatte: Liberal, illegal... scheißegal
■ Gerald Sammet über die Chaos-Tage
Was war das nun, was in den letzten Tagen in Bremen passiert ist? War das Grundgesetz außer Kraft gesetzt und muß der Innensenator gescholten werden oder hat ein kluger Innensenator rechtsstaatlich einwandfrei den ganz großen Krawall vermieden? Wir wollen an dieser Stelle eine Debatte über diese Fragen eröffnen. Den Anfang macht Gerald Sammet von Radio Bremen 2. Sein (hier gekürzter) Kommentar wurde gestern im „Journal am Morgen“ gesendet. Wir danken für die Abdruckgenehmigung.
Zwar ist es (das Chaos, d. Red.) am Ende nicht ganz so überzeugend gelungen, wie in Hannover im vergangenen Jahr, aber dafür, daß die Ideenlosigkeit nicht so recht zur materiellen Gewalt werden wollte, gibt es ja mindestens einen Schuldigen: Ralf H. Borttscheller, Innensenator und, nach Meinung des Landesvorstandssprechers der Grünen, Hucky Heck, aus rechtsstaatlicher Sicht ein durch und durch zweifelhafter Gesell. Borttscheller, erklärte Heck gestern, habe elementare Freiheits- und Bürgerrechte außer Kraft gesetzt, das Vorgehen der Polizei habe die Züge eines Willkürstaates getragen, und vollends unverständlich sei für ihn, daß es einem CDU-Hardliner möglich sei, in einer sozialdemokratisch geführten Landesregierung auf diese Weise zu agieren.(...)
Eines haben diese glimpflich ausgegangenen Chaos-Tage deutlich gezeigt: Das Chaos in den schrankenlos liberalen Köpfen reicht weit über die Leere in den Köpfen der Chaoten hinaus. (...) Zuallererst wäre zu fragen gewesen, ob denn die Ankündigung, man wolle Pech und Schwefel auf friedliche Bürger herabregnen lassen, sich wirklich mit rein rechtlich und noch nicht einmal rechtsstaatlich zweifelsfreien Umgangsformen verträgt. Andernfalls hätten auch die Neonazis, die zur Erinnerung an den Todestag des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß in Bremen einen Gedenkmarsch veranstalten wollten, Grund, über Justizwillkür und einen Eingriff in ihre Grundrechte zu klagen.
Es ist schon richtig und gute liberale Tradition, wenn darauf insistiert wird, daß das Grundgesetz nicht als ein Einmaleins des guten Tons ausgelegt werden darf. Das Tragen von Rot und Grün auf dem Kopf wie im Kopf bleibt gesetzlich geschützt. Gegen das offensive Vorzeigen von Dummheit hat der Staat eine Handhabe nur bei Gefahr im Verzug. Genau diese Situation war aber nach den Erfahrungen des Vorjahrs in Rechnung zu stellen. Das Spiel mit dem Bürgerkrieg ist auch dann ein Kriegsspiel, wenn außer denen, die es anzetteln, alle anderen glauben mögen, es werde ja nur in der Sandkiste und von auf ein bißchen Frohsinn versessenen Leuten gespielt. (...) Liberalität tut gut daran, beim Wort zu nehmen, was als Tat immerhin vorstellbar ist.
Der Rest ist Angelegenheit von Polizei und Justiz und eine Frage der Verhältnismäßigkeit der Mittel. Jenseits von aller Schlagetot-Rhetorik gibt es keinen Hinweis darauf, daß die Exekutive sich von diesem Grundsatz entfernt hätte. Der Rechtsstaat ist an diesem Wochenende in Hannover und Bremen erfreulicherweise ein Rechtsstaat geblieben und als solcher auch noch ziemlich erfolgreich gewesen. Gerald Sammet
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