piwik no script img

Jelzin steigt in die Zarenstiefel

Heute tritt Rußlands Präsident sein Amt an. Flieger vertreiben graue Wolken, und auch sonst erinnert vieles an längst vergangene Zeiten  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

„Alles, was man gewöhnlich ,ganz Petersburg‘ nennt, versammelt sich hier“, jubelten die Moskauer Gazetten angesichts der unüberschaubaren Gästeschar von Rang und Namen. Täglich brachten Züge Europas Hocharistokratie in die Kremlstadt. Aus noch so entfernten Ecken des Riesenreiches trafen Delegationen ein. Sie erfüllten die Stadt mit einer Pracht und Farbigkeit, wie sie das verwaiste Moskau lange nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Denn seit beinah zwei Jahrhunderten regierten Rußlands Zaren in Sankt Petersburg, dem „Fenster zum Westen“. Die Freude der Moskowiter kannte keine Grenzen und auch nicht das Staatsbudget. 110 Millionen Rubel standen dem Oberzeremonienmeister von der Palen für die Krönungszeremonie des letzten russischen Zaren Nikolaus II. zur Verfügung, die am 9. Mai 1896 stattfinden sollte. Moskau putzte sich heraus wie nie zuvor, die neueste technische Errungenschaft, elektrischer Strom, verwandelte die Fassaden in ein Meer von Licht und Illusionen.

Obwohl Moskau nicht mehr als Hauptstadt diente, war es doch üblich, den Monarchen im Kreml zu krönen. Besonders der neue Zar legte Wert auf Tradition. Im Gegensatz zu seinen beiden Vorgängern warf er sich wieder in die Dalmatika, einem Kleid aus weißer dalmatinischer Wolle, wie es die byzantinischen Kaiser zu tragen pflegten. Für einen Moment tauchte Rußlands Anspruch auf Nachfolge der byzantinischen Herrscher wieder auf, wenn auch nur äußerlich.

Nun steht wieder eine Inauguration ins Haus. Heute wird Boris Jelzin als Präsident der Russischen Föderation eingeführt. Selbstverständlich findet die „Salbung“ wie der Kommersant daily ironisch anmerkte an traditionsreichem Ort statt, auf dem Platz zwischen den drei Kathedralen im Kreml. Der Wunsch der russischen Führung, das Ereignis gebührend zu würdigen, läßt sich nachvollziehen. Zum erstenmal wurde ein russisches Staatsoberhaupt demokratisch gewählt. Als Jelzin 1991 zum Präsidenten gekürt wurde, bestand Rußland nur als Teil der UdSSR. Michail Gorbatschow war es, der ihm die Ernennungsurkunde überreichte. Die Zeremonie hatte damals etwas Rührendes, einige tausend unermüdliche Kämpfer für Demokratie – und Jelzinfans – jubelten ihrem Hoffnungsträger zu. Dazu plärrte eine Blaskapelle.

Heute bedarf es ernsterer Anstrengungen: Demokratie und Präsidentschaft wollen auch auf einer rituellen Ebene vermittelt werden. Woran läßt sich aber guten Gewissens anknüpfen? Dem Inaugurationsausschuß fällt die Aufgabe nicht leicht, im letzten Moment wurde auch noch Zeremonienmeister Nikolai Jegorow entlassen. Seine Rolle übernimmt der neue Chef der präsidialen Administration Anatoli Tschubais, der streng nach Westen schaut. Für hochtheatralische Kinkerlitzchen und die übliche russische Selbstbeweihräucherung hat er nicht allzuviel übrig. Daran glauben mußte bereits die eigens für die Amtseinführung bestellte Kantate oder Ode „Unser Präsident“, komponiert vom Leiter des Präsidenten Orchesters Pawel Owsjannikow. Den Text lieferte Boris Dubrowin: „In unserem stolzen und mächtigen Staate / ist es an der Zeit zum Jubelfeste / Er ist stark und mag frohlocken / nun nachdem die Wahl getroffen / Sie segnet das Volk, das Ihnen sein Schicksal überträgt / möge bringen über die Jahre der Welt der Freiheit / Licht unser Präsident“.

Soviel Pathos — zusammenklabüstert aus Relikten des Ancien régime und der anscheinend unausrottbar huldvollen Sowjetmentalität paßte Tschubais nicht ins Konzept: „die bombastische Monstrosität“ widerspreche den „bei weitem nicht rosigen Zeiten“. Tschubais legte den Finger auf eine offene Wunde. Denn seit altersher gilt in Rußland als besonders flammender Patriot, wer Volk und Land idealisiert. Der weltberühmte Physiologe Iwan Pawlow ging im Frühjahr 1918 dieser Thematik in einem Vortrag „Über den russischen Verstand“ schon einmal nach. Er stellte damals acht auffallende Abweichungen des „russischen Verstandes vom rationalen Niveau“ fest. Seine Schlußfolgerungen mußten die Intelligenz verletzen. Doch begründete er seine unnachgiebige Strenge damit, daß es gerade die patriotische Pflicht jedes Russen sei, in den schweren Stunden des Landes „auf sich selbst und seine Umgebung ohne Selbstbetrug zu blicken“.

Punkt zwölf Uhr werden heute alle Kremlglocken den Auftakt der Feierlichkeiten einläuten. Die Zeremonie soll nach Vorstellung der Verantwortlichen den Charakter eines „gesamtnationalen Ereignisses“ vermitteln. Sollte das Wetter streiken, vertreiben Flugzeuge der meteorologischen Staffel die Wolken. Dreitausend Besucher sind geladen, unter ihnen als einzige Staatsgäste auch die Präsidenten der ehemaligen Sowjetrepubliken.

Auch früher wurde dem Volk schon etwas geboten. Im 18. Jahrhundert grillte man Mastochsen, ließ Wein aus Fontänen fließen und warf Münzen unters Volk. Nikolai II. Verschenkte anläßlich der Krönung einen Emaillebecher mit seinen Insignien. Bald hatte sich das in der Stadt herumgesprochen und auch, daß noch ein Korb mit Wurst und anderen Leckereien auf die Schaulustigen wartete. Über hundert Büffets hatte der Hof für das Volk errichten lassen. Die Menschen strömten in Massen, Panik brach aus. Dem Monarchen geneigte Quellen behaupten, ein Feuer sei ausgebrochen, andere, die Gaben hätten nicht gereicht. Zurück blieben indes 1.300 Tote und 2.500 Verletzte. Der Zar hielt an den dreitägigen Feierlichkeiten fest. 90.000 Rubel gewährte er den Opfern, tausend Flaschen Portwein und Madeira schickte er Überlebenden ins Lazarett.

Jelzin hat seine Geschenke schon im Wahlkampf verteilt. Doch ließ er es sich nicht nehmen, letzte Woche noch einen Wettbewerb auszuschreiben: „Eine Idee für Rußland“. Ein origineller Einfall, mit Hilfe eines Wettbewerbs ein Land auf die Suche nach sich selbst zu schicken. „Wer sind wir, und wohin gehen wir?“ fragte die staatliche Rossiskaja gaseta.

Rußlands Übel liegt nicht im Fehlen einer verbindenden Idee. Im Gegenteil, nach wie vor ist sie omnipräsent und verschlingt alles. Die nationale Ideologie, das ist der Hang zum Messianismus, der die eigene Überlegenheit preist und Andersdenkende nicht tolerieren will. Es ist die Neigung, sich in gigantischen Unternehmungen kollektiv zu überheben, um vor der Welt die Schwäche zu kaschieren. „Der russische Verstand“, schrieb Pawlow, „lehnt die Kritik der Methoden ab, prüft weder den Sinn der Begriffe, noch blickt er hinter die Fassaden der Worte. Er liebt es nicht, sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen.“ Zehn Millionen Rubel (3.000 Mark) winken dem Gewinner des Wettbewerbs. Viel läßt sich der Staat die neue Doktrin nicht kosten. Vielleicht entdeckt ja jemand den Vortrag des Physiologen. Es wäre ein Segen für Rußland und eine Entlastung für die Staatskasse.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen