piwik no script img

Geisterbahn für Schienenfreaks und Touristen

■ BVG gewährt bei einer Nachtfahrt Einblicke in Berlins Unterwelt: „Blinde Tunnel“ wie am Kreuzberger Oranienplatz zeugen von wechselvoller Geschichte

Schienengeratter hallt von der Tunnelwand wider. Den Fahrtwind im Gesicht, starrt man in die Dunkelheit. Warten auf die Spinne, wie sie den Fahrgästen in der Geisterbahn entgegengeschleudert wird. Plötzlich hält der offene Bauwagen an einer unscheinbaren weißen Markierung. „An dieser historischen Stelle grenzten Ost- und West-Berlin aneinander“, erklärt der Führer durch die Dunkelheit: „Die Mauer fand hier im U-Bahntunnel an der Heinrich-Heine-Straße ihre unterirdische Fortsetzung durch ein Fallgitter, das nachts von Ost-Berlin heruntergelassen wurde.“ Sechzig gelbe Helme über orangefarbenen Sicherheitswesten beugen sich nach vorne, 1.000 Blitzlichter lassen den weißen Strich verblassen.

BVG-Sonderausflug für Journalisten, die während der nächtlichen Betriebspause die Untiefen der Hauptstadt erkunden wollen. „Unbekannte Ein- und nie gesehene Aussichten bei der U-Bahn“ verspricht die BVG den Sommerlochgebeutelten. Die Fahrt startet um 1 Uhr nachts am Hermannplatz und führt auf Um- und Abwegen über Alexander- und Potsdamer Platz zur Deutschen Oper. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen die „blinden Tunnel“: Meist unvollendete und nicht genutzte Tunnelabschnitte aus dem Planungschaos eines Jahrhunderts U-Bahn.

Die andächtige Begeisterung angesichts der Kuriositäten steht vor allem den zahlreichen U-, S- und Eisenbahnexperten ins Gesicht geschrieben. „Das ist die erste Möglichkeit, den Tunnel unter der Dresdener Straße zu besichtigen“, begeistert sich Michael Günther, Mitherausgeber der „Verkehrsgeschichtlichen Blätter“, Auflage 2.000 Stück. Der 400 Meter lange Tunnel zwischen Prinzenstraße und Oranienplatz war in den zwanziger Jahren gebaut worden. Doch das Kaufhaus Wertheim am Moritzplatz wollte eine eigene U-Bahn-Station vor der Tür haben – nach der Neuplanung war der Tunnel überflüssig.

Die anwesende Insider-Szene hat schon meterweise Bücher über Geburt und Entwicklungsphasen ihres Lieblingsspielzeugs verfaßt und dabei keinen Halt gemacht vor Themen wie Tunnelfixiertheiten und -phantasien von Männern. Fachsimpeln über Groß- und Kleinprofil (Waggonbreite!), Spekulationen hinsichtlich der Breite der „blinden Tunnel“.

Alte Beschriftungen an den Wänden am Tunnel unter der Dresdener Straße verweisen auf die Funktion als Luftschutzkeller während des Zweiten Weltkriegs. In den kleinen Räumen, die wohl als „Aborte“ gedient hatten, steht das Wasser, in einer Ecke liegt eine Ritter-Sport-Verpackung. Weiter hinten verbreitert sich der Tunnel zu einem rudimentären Abschnitt. Diesen westlichen Teil nutzte die Bewag bis 1988 für ein unterirdisches Umspannungswerk.

BVG-Direktor Klaus Lipinsky versprach Wiederholung. „Wir wollen diese Fahrt für Touristen im Rahmen des „Schaustellen“-Konzepts anbieten.“ Isabel Fannrich

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen