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„Alles, was stört, wird rausgerissen“

Straßensperren fallen, und aus Bannwald wird Gewerbegebiet. Die Unternehmer sind zufrieden: Seit 100 Tagen regieren die Schwarzen in der einstigen roten Hochburg Nürnberg  ■ Aus Nürnberg Bernd Siegler

„Alles, was in dieser Stadt stört, wird rausgerissen.“ Nürnbergs Oberbürgermeister Ludwig Scholz sprach's, legte medienwirksam selbst Hand an und zog die Schilder mit den Fuß- und Radwegzeichen an zwei innerstädtischen Brücken heraus. „Freie Fahrt für freie Bürger“, mit diesem Slogan war der CSU-Mann angetreten, die seit über 50 Jahren von der SPD, zuletzt zusammen mit den Grünen, regierte Stadt zu erobern. Den von Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber als „epochal“ eingestuften Erfolg der Schwarzen hat er geschafft. Seit 100 Tagen sitzt Scholz nun auf dem Sessel des Stadtoberhaupts – und löst die Wahlversprechen ein, die so gut wie nichts kosten.

Da seit 1991 in Nürnberg 30.000 Arbeitsplätze verlorengegangen sind und die Arbeitslosenquote auf 10,4 Prozent kletterte, kürte Scholz die „Wirtschaft zur Chefsache“. Investoren sollen wieder „Lust auf Nürnberg“ bekommen. Als erstes Signal dazu senkte die CSU die Parkgebühren in der Innenstadt und beseitigte „Verkehrsschikanen“. Der mühevoll aus der City verbannte Verkehr kann jetzt wieder ungehindert fließen.

Andere „Hemmnisse“ wie die bundesweit hochgelobte Satzung für eine Verpackungssteuer waren gleichfalls schnell kassiert. Das Umweltreferat soll demnächst ersatzlos gestrichen werden. Ein Areal von 40 Hektar am Hafen wurde nicht zum „Bannwald“, sondern zum Gewerbegebiet erklärt.

Am 24. März hatte der 58jährige Verwaltungsjurist Scholz die Stichwahl gegen den favorisierten SPD- Oberbürgermeister Peter Schönlein haushoch gewonnen. Die Sensation war perfekt. Die CSU war nicht nur erstmals seit 1946 die stärkste Rathausfraktion, sondern stellte auch das Stadtoberhaupt. „Jetzt gehen wir ruckzuck an die Arbeit“, jubelte der von der eigenen Partei eher als Verlegenheitskandidat ins Rennen geschickte Scholz. „Ein Honigschlecken wird es nicht werden“, versuchte er jedoch sogleich bei seinem Amtsantritt am 2. Mai die von ihm selbst im Wahlkampf in die Höhe getriebenen Erwartungen zu dämpfen.

Scholz verwies auf „Altlasten“ wie die Riege der SPD-Referenten und die hohe Schuldenlast der Stadt von 2,1 Milliarden Mark. Der Siegesrausch war rasch verflogen. „Es kommen auf uns Aufgaben zu, die wir gar nicht kennen“, gab die frischgebackene Bürgermeisterin Helene Jungkunz (CSU) unumwunden zu.

Als erstes zimmerte Scholz ein „bürgerliches“ Bündnis mit dem Vertreter der FDP und zwei unabhängigen Stadträten. Eine davon hatte ein Jahr zuvor aus Protest der CSU den Rücken gekehrt. Sie hatte dem damaligen Fraktionschef Scholz vorgeworfen, die Sitzungen unter seiner Regie hätten in alkoholisierter Atmosphäre stattgefunden.

Nach einer Klausurtagung präsentierte die CSU-Stadtratsfraktion ein „100-Tage-Programm“. Doch bevor Scholz zur Tat schreiten konnte, mußte er sich zunächst des Eindrucks erwehren, der CSU- Bezirksvorsitzende und bayerische Innenminister Günther Beckstein bestimme die Rathauspolitik. Der nämlich war mit dem Vorschlag vorgeprescht, die Stadt solle doch ihre Wohnungen verkaufen, um das Haushaltsdefizit auszugleichen. „Im Rathaus gebe ich die Themen vor“, wehrte sich Scholz.

Während die von der Wahlniederlage immer noch paralysierte SPD von einem „Rückfall in die Steinzeit“ sprach, waren die Unternehmer voll des Lobes über die Wende in der Stadtpolitik. „Aufbruchstimmung“ war angesagt, seit Stoiber dem Ballungsraum Nürnberg-Fürth-Erlangen eine dreistellige Millionenspritze aus den Privatisierungserlösen der bayerischen Staatsbetriebe zusicherte.

Stoiber war auch anwesend, als auf einem „Zukunftskongreß“ der Marketingverein „Die Region Nürnberg“ aus der Taufe gehoben wurde. Damit wollen die Städte Nürnberg, Fürth, Erlangen und Schwabach den Großraum zum „Kompetenzzentrum für Telekommunikations-, Verkehrs- und Medizintechnik in Deutschland“ machen. Stoiber schwärmte von einem „Treibsatz für die wirtschaftliche Entwicklung“.

Die Ernüchterung folgte auf dem Fuß. Die Videorekorderfabrik „i R 3“ in Nürnberg, ein Gemeinschaftsunternehmen von Philips und Grundig, kündigte die Schließung ebenso an wie Sandoz und Teile der AEG-Hausgeräte, insgesamt ein Wegfall von knapp 1.200 Arbeitsplätzen. Auch der vollmundigen Ankündigung von Scholz, das umstrittene Jugendzentrum „KOMM“ zu schließen, folgten angesichts bestehender Verträge keine Taten.

Schon zeichnet sich die erste Krise in der „bürgerlichen“ Koalition ab. „Wir fühlen uns nicht ernst genommen“, monieren die Freien Wähler. „Der Wandel in Nürnberg wird bereits greifbar“, verkündet dagegen der neue CSU-Fraktionschef Klemens Gsell. Nicht ohne Trotz.

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