Mauerschützen: Urteile in 77 Fällen

■ Mindestens bis zur Jahrtausendwende wird die Justiz noch mit den Todesschüssen an der Mauer beschäftigt sein

„Wir fordern die Beendigung der politischen Strafverfolgung.“ Protestschreiben dieser Art füllen bei Richter Föhrig mittlerweile einen ganzen Aktenordner. Die Schreiben kommen nicht nur aus Deutschland; „Solidaritätskomitees“ von Aserbaidschan bis Australien haben die Justiz mit ihrem Protest überhäuft, erzählt Föhrig, der derzeit die Verhandlung am Landgericht gegen sechs ranghohe Generäle der DDR-Grenztruppen führt. Der Vorwurf, es handle sich bei solchen Verfahren um „politische Prozesse“, um „Siegerjustiz“, wird seit dem Beginn des ersten sogenannten Mauerschützenprozesses im Oktober 1991 erhoben. Ein Vorwurf, der zumindest außer acht läßt, daß – wenn auch von westdeutschen beziehungsweise Westberliner Richtern – nach DDR- Gesetzen geurteilt wird.

Über 600 Fälle von versuchtem oder vollendetem Totschlag an der innerdeutschen Grenze liegen der Staatsanwaltschaft II vor. Sie ist zentral für die Ermittlungen in Sachen Regierungskriminalität verantwortlich. 251 Menschen sind nach ihren Ermittlungen an der innerdeutschen Grenze erschossen worden oder durch Minen umgekommen, 110 davon allein in Berlin. Nach Angaben der „Arbeitsgemeinschaft 13. August“ kamen sogar 899 Menschen bei dem Versuch ums Leben, die DDR zu verlassen.

Zumindest noch bis zur Jahrtausendwende wird die Justiz mit den Verfahren um Tötungsdelikte an der DDR-Grenze beschäftigt sein, meint der dafür verantwortliche Generalstaatsanwalt Christoph Schaefgen. In 77 Fällen ist bisher ein Urteil ergangen, 40 davon sind bereits rechtskräftig.

Da „mittlerweile höchstrichterliche Rechtsprechung vorliegt“, werde seltener Revision eingelegt, so Generalstaatsanwalt Schaefgen. In der Vergangenheit landeten nicht wenige Fälle beim Bundesgerichtshof (BGH). So wurde auch das Urteil im ersten Mauerschützenprozeß vom BGH aufgehoben, weil das höchste deutsche Gericht das Strafmaß gegen einen der DDR-Grenzer als zu hoch ansah.

Andererseits entschied der BGH 1995, daß die Schüsse an der Mauer auch nach DDR-Gesetzen unrecht gewesen seien und die Ahndung demnach nicht gegen das Rückwirkungsverbot des Grundgesetzes (Artikel 103) verstoße. In Paragraph 95 des DDR- Strafgesetzbuches hieß es nämlich ausdrücklich, daß sich nicht auf „Gesetz, Befehl oder Anweisung“ berufen kann, wer „in Mißachtung der Grund- und Menschenrechte ... handelt“.

In den 40 bis heute abgeschlossenen Verfahren wurden meist Bewährungsstrafen verhängt. Nur in einem Fall wurde ein Angehöriger der Grenztruppen zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt. Ebenfalls zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt wurden der ehemalige Verteidigungsminister Heinz Keßler (siebeneinhalb Jahre), sein Stellvertreter Fritz Streletz (fünfeinhalb Jahre) und der ehemalige Suhler SED-Bezirkschef Hans Albrecht (fünf Jahre). Der Vorwurf, man hänge die Kleinen und lasse die Großen laufen, läßt sich deshalb kaum noch aufrechterhalten. Zumal sich derzeit sechs Mitglieder des SED- Politbüros, darunter Egon Krenz, für die Toten verantworten müssen. Keßler, Streletz und Albrecht und ein Mauerschütze haben derweil Klage beim Bundesverfassungsgericht erhoben. Karlsruhe muß nun abschließend klären, ob die Verfahren gegen Mauerschützen sowie die politische und militärische Führung der DDR gegen das Rückwirkungsverbot des Grundgesetzes verstößt. Mit einer Entscheidung ist für den Herbst zu rechnen. Christian Meseth