: Grenzen der Verfügbarkeit
Selektiver Schwangerschaftsabbruch, Embryonenverbrauch und die Autonomie der Frau: Kann die britische Diskussion um Probleme mit der In-vitro-Fertilisation Auswirkungen auf deutsche Gesetzesvorlagen zur Abtreibung haben? ■ Von Andreas Kuhlmann
Noch vor kurzem hatte man den Eindruck, zwischen den Fronten im Streit um die Abtreibung sei es zu einer Art Waffenstillstand gekommen. Es ist gerade ein Jahr her, daß SPD-, FDP- sowie eine Mehrheit der CDU-Fraktion im Deutschen Bundestag überraschend einen gemeinsamen Gesetzentwurf vorlegten, der dann im Parlament nur noch lustlos debattiert und zügig verabschiedet wurde. Ermüdungs- und Verschleißerscheinungen hatten sich eingestellt nach dem mehr als zwei Jahrzehnte andauernden Streit über Grundsatz- wie über Detailfragen der Abtreibungspraxis.
Wieder einmal fiel dann dem Freistaat Bayern die Rolle zu, den Eindruck zu zerstören, die Kontrahenten könnten mit dem gefundenen Kompromiß leben. Anstößig an dem neuen bayrischen Beratungsgesetz ist dabei gar nicht mal in erster Linie der formalrechtlich sicher fragwürdige Sachverhalt, daß das Landes- vom Bundesgesetz abweicht. Skandalös ist vielmehr umgekehrt, daß die Sonderregelung den Paragraphen 218 um eine bedeutsame Nuance verschärft, ansonsten aber den vorgegebenen rechtlichen Rahmen unangetastet lassen muß. Das nämlich bedeutet: Der Frau wird das Recht, innerhalb der ersten zwölf Wochen über die Fortsetzung einer Schwangerschaft zu entscheiden, nur um den Preis zuerkannt, daß sie sich einer aufwendigen und vom Staat kontrollierten Beratungsprozedur unterzieht und daß sie – nach von nun an geltendem bayrischen Sonderrecht – über ihre Motive Auskunft gibt. Wenn die Frauen aber in solcher Weise „verantwortlich“ (im Sinne der Verfassungsgerichtssprechung von 1993) bei der Konfliktbewältigung kooperiert haben und sich schließlich für einen Abbruch entscheiden, so bleibt den meisten von ihnen dennoch die Anerkennung, „rechtmäßig“ zu handeln, vorenthalten. Das aber ist eine absurde Situation: Der Staat ermächtigt und kontrolliert Institutionen, die Frauen durch eine „Begleitung“ ihrer Entscheidungsfindung zu einem verantwortungsbewußten Handeln verhelfen sollen; läßt die Frau dann aber abtreiben, so bleibt an ihr der Makel haften, unrechtmäßig zu handeln. Der Staat muß sich fragen lassen, ob er hier nicht selbst an einem Akt mitwirkt, der von ihm als Rechtsbruch deklariert wird.
Es mag fragwürdig erscheinen, bestimmte Abtreibungsentscheidungen von Frauen ausgerechnet zu einem Zeitpunkt in Frage zu stellen, wo im deutschen Süden Inquisitionsmethoden im Landesrecht verankert werden, die von der dortigen Strafjustiz längst schon praktiziert wurden. Deshalb hat die Nachricht aus England, daß eine Frau einen Zwillingsfötus abtreiben ließ, im liberalen Lager zu eher verklemmten Reaktionen geführt: Sicher, so hieß es, wohl könne einem bei solch einem Vorgehen nicht sein, doch keinesfalls dürfe man das Recht der Frau, sich auch für eine sogenannte selektive Abtreibung zu entscheiden, in Frage stellen. Problematisiere man diese Entscheidung, so liefere man damit lediglich den Abtreibungsgegnern Munition. Manche Kommentare zum englischen Fall erscheinen als Versuch, das eigene Unbehagen zu überspielen und die Methode des selektiven Schwangerschaftsabbruchs als neutrales Mittel zu begreifen, von dem Frauen in Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts Gebrauch machen.
Nun hat aber eine gerade hierzulande weit verbreitete Kritik an der modernen Reproduktionsmedizin mit gutem Grund immer wieder deutlich gemacht, daß die avancierte Medizin nicht einfach Mittel bereitstellt, die Frauen dann nach eigenem Gutdünken in Anspruch nehmen können. Genau diesem Kontext der Reproduktionsmedizin entstammt jedoch das Verfahren des selektiven Abbruchs. Erstmals Mitte der siebziger Jahre wurden in Deutschland und in anderen Ländern von hochspezialisierten Ärzteteams Abtreibungen eines geschädigten Zwillings vorgenommen. Einer von zwei Föten wurde abgetrieben, wenn bei ihm eine Trisomie 18, Trisomie 21 (Down-Syndrom), ein Turner-Syndrom oder ein Hydrozephalus diagnostiziert wurde. Die gleiche Methode wurde dann später häufig bei höhergradigen Mehrlingsschwangerschaften angewandt, die infolge künstlicher Befruchtung eingetreten waren. Da bei der In-vitro-Fertilisation meistens mehrere Embryonen in die Gebärmutter übertragen werden, ist die Wahrscheinlichkeit nicht unbeträchtlich, daß es zur Entwicklung von Zwillingen, Drillingen oder gar Vierlingen und Fünflingen kommt. „Reduziert“ werden solche Schwangerschaften, indem die „überzähligen“ Föten durch Einstiche ins Herz oder durch Injektionen von toxischen Stoffen ins Herz getötet werden. In Fachkreisen nennt man das „Needling“, wofür es schlechthin kein anderes deutsches Wort gibt als „Abstechen“. Berichtet wird in diesem Zusammenhang von der Resistenz des fötalen Herzens, die eine mehrmalige Wiederholung der Tötungsprozedur notwendig macht. Bei diesen Abbrüchen besteht zudem für die Föten, die überleben sollen, die Gefahr von Infektionen sowie von Frühgeburten. Dabei kann es dann auch zum Verlust aller Kinder kommen.
Allein in England, so wurde in den vergangenen Tagen berichtet, wurden im letzten Jahr etwa hundert Teilabbrüche nach künstlicher Befruchtung vorgenommen. In Deutschland scheint dieses Verfahren nicht mehr praktiziert zu werden, da einer Frau nach Inkrafttreten des Embryonenschutzgesetzes 1991 nur noch höchstens drei Embryonen während eines Zyklus übertragen werden dürfen. Da es deshalb nicht mehr zu solchen Mehrlingsschwangerschaften (Vierlingen und Fünflingen) kommen kann, die die Gesundheit von Frau und Kindern erheblich gefährden, kann es nach herrschender Meinung unter den Ärzten auch keine Indikation für einen Teilabbruch nach künstlicher Befruchtung mehr geben.
Wenn die in den letzten Tagen mit Hinblick auf den englischen Fall bemühte Argumentation konsequent zu Ende geführt wird, dann wäre aber der in Deutschland anscheinend geübte Verzicht auf Teilabbrüche kaum noch begründbar. Ein Paar etwa, das lange auf ein Kind gewartet hat, ein fortgeschrittenes Alter erreicht hat und sich schließlich zu einer In-vitro- Fertilisation (die sehr häufig, wenn überhaupt, erst nach mehreren, langwierigen Versuchen erfolgreich ist) entschließt, könnte sich von der Aussicht überfordert fühlen, nun plötzlich zwei oder drei Kinder großziehen zu müssen. Wäre ihr Wunsch, die Schwangerschaft „reduzieren“ zu lassen, eine legitime Fortpflanzung? Oder würde durch solch eine Verknüpfung von therapeutisch beförderter Schwangerschaft und therapeutisch motiviertem Teilabbruch nicht die Vorstellung von reproduktiver Autonomie ad absurdum geführt?
Wenn es um konkrete Optionen der Fortpflanzungsmedizin geht, so muß man versuchen, jene Handlungslogik nachzuvollziehen, die mit der Einführung eines neuen Verfahrens in Gang gesetzt wird. Unter diesem Gesichtspunkt unterscheidet sich ebenfalls die in England kürzlich vollzogene Vernichtung von 3.000 im Labor gezeugten und dann tiefgefrorenen Embryonen von der selektiven Abtreibung. Die Zerstörung einer großen Anzahl von Embryonen hat nur besonders sinnfällig gemacht, was bei der In-vitro-Fertilisation ohnehin täglich geschieht. Bei diesem Verfahren wird eine Mehrzahl von Embryonen mit dem Ziel erzeugt, daß sich einer, aber eben im Normalfall auch nicht mehr als einer, von ihnen in der Gebärmutter einnistet und zu einem Kind heranreift. Auch das als besonders restriktiv geltende deutsche Embryonenschutzgesetz ist in sich widersprüchlich, da es zum einen apodiktisch bestimmt, daß mit einem Embryo nichts unternommen werden darf, was nicht zu seiner Erhaltung dient, zugleich aber zugelassen wird, daß einer Frau jeweils drei Embryonen übertragen werden. Unausgesprochen wird hier eben doch in Kauf genommen, daß zwei von drei Embryonen rechtzeitig absterben.
Die Zerstörung der 3.000 Embryonen ändert an der etablierten Praxis der künstlichen Befruchtung nicht das geringste und wird auch für sich selbst genommen solch eine Veränderung nicht nach sich ziehen. Wenn man gegen diese Vernichtung von Frühstadien menschlichen Lebens keine Argumente im Sinne von Lebensschützern mobilisiert, so bedeutet dies auch keineswegs, daß man in der Konsequenz auch Embryonenforschung akzeptieren muß. Es ist ja ein Unterschied, ob man einen Vier- oder Achtzeller an sich für sakrosankt erklärt, oder man die Folgewirkungen scheut, die die totale Verfügung über entstehendes menschliches Leben auf längere Sicht haben kann. Embryonenforschung aber ist die Voraussetzung dafür, daß es zur immer gezielteren Selektion von abweichenden „Individuen“ kommen kann. Wenn man letzteres nicht will, so ist es auch vernünftig, Experimente mit Embryonen entweder völlig zu verbieten oder sie starken Restriktionen zu unterwerfen.
Um auf die Frau zurückzukommen, die einen Zwilling abtreiben ließ, weil sie es sich nicht zutraute, noch zwei Kinder großzuziehen: Mir scheint, sie hätte beide Kinder zur Welt bringen und das eine von ihnen zur Adoption freigeben können. Im Normalfall einer unerwünschten Schwangerschaft stellt die Adoption – anders als von Lebensschützern behauptet wird – keine Alternative zum Schwangerschaftsabbruch dar. Denn es ist schlechterdings unzumutbar, eine Frau zum Durchstehen einer Schwangerschaft zu zwingen und ihr gleichzeitig gönnerhaft zuzugestehen, sie könne ja das Kind, das in ihrem Leib herangewachsen ist, nach der Geburt weggeben. Die englische Frau aber hat ihre Schwangerschaft ohnehin zu Ende geführt. Und es ist fraglich, was eine größere seelische Belastung darstellt: Das Weggeben eines von zwei Kindern nach der Geburt oder das gezielte Töten eines Zwillingsfötus, den die Schwangere dann zusammen mit dem lebendigen Kind noch über Monate im eigenen Leib haben wird. In diesem Falle wäre es deshalb besser, sich im Rahmen der konventionellen Alternative – Beendigung oder Austragen der Schwangerschaft – zu entscheiden, anstatt sich von der Medizin ein neues, scheinbar besonders bedarfsgerechtes, in Wirklichkeit aber – was seine konkreten Auswirkungen auf Mutter und Kinder und seine Konsequenzen für künftige Reproduktionsentscheidungen betrifft – höchst fragwürdiges Verfahren andienen zu lassen.
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