Aufschrei der Heimleitungen

■ Pflegeheime mißtrauen den Gutachten der medizinischen Dienste

„Wir erleben gerade unser blaues Wunder“, sagt Heimleiter Michael Grauenhorst vom Alten- und Pflegeheim am Neustädter Kirchweg. Seit die zweite Stufe der Pflegeversicherung gilt, steht Grauenhorst „vor einem Rätsel“. Von den 106 Bewohnern im Kirchweg waren bisher 70 Prozent als schwerste Pflegefälle registriert. Doch jetzt sollen es nur noch 7 Prozent sein, stellten Gutachter der Pflegekassen vor Ort fest. Grauenhorst ruft nun zum Widerstand auf, und damit ist er nicht allein: Über 10 Prozent der bisher 3.000 in Bremen untersuchten Patienten legten bei den Pflegekassen Widerspruch ein.

Laut neuem Pflegegesetz müssen die Kassen jetzt alle Patienten in drei Pflegestufen einordnen. Der medizinische Dienst schaute im Kirchweg bereits bei 73 Patienten vorbei und füllte Fragebögen aus. Das für Grauenhorst völlig unverständliche Ergebnis: Nur neun wurden in die härteste Stufe 3 als Schwerstpflegefall eingestuft, sie werden in Zukunft von der Kasse 2.800 Mark im Monat erhalten. Weitere 29 schafften die Stufe 2 (schwer pflegebedürftig/2.500 Mark), 17 die Stufe 1 (erheblich pflegebedürftig/2.000 Mark) und 18 fielen ganz raus.

Herr R. ist so ein Fall. Der 80jährige kann sich an- und ausziehen, auch Waschen ist kein Problem. „Doch oft ist der total von der Rolle“, erzählt Schwester Monika Grauenhorst. Dann könnten ihn die Schwestern kaum allein lassen, und der alte Mann muß rund um die Uhr versorgt werden. „Sonst passiert ihm noch irgendwas im Suff“, sagt Grauenhorst. Vor der Pflegeversicherung war für die Heimleitung klar: Der Mann ist ein absoluter Schwerstpflegefall, wie all die anderen Verwirrten und zum Teil komatösen Patienten. Doch als die Gutachter vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen vorbeischauten, präsentierte sich Herr R. von seiner besten Seite. „Die sind dann total stolz zu zeigen, was sie noch können“, weiß die Schwester. Die Folge: Herr R. fiel ganz raus. Jetzt hat er Widerspruch eingelegt, doch vorerst bleibe ihm nur der Weg zum Sozialamt. Denn den Tagessatz von 160 Mark kann der kranke Mann nicht aus eigener Tasche bezahlen. „Eigentlich sollte die Pflegeversicherung gerade das verhindern“, beklagt sich Manfred Schulken, Vorstandsvorsitzender der Inneren Mission. Bei den Schwestern und der Heimleitung macht sich jetzt Mißtrauen gegen die Gutachter breit. „Wir haben qualifiziertes Personal und sind ja nicht blind“, wehrt Katrin Vester als leitende Ärztin des medizinischen Dienstes ab. Die Begutachtung erfolge nach rein „medizinischen Kriterien“. Nur wer rund um die Uhr und nachts vier Stunden täglich Pflege braucht, sei ein Schwerstpflegefall. „Hintergrundpräsenz“ wie im Falle von Herrn R. tauche da nicht auf. „Das führt vierlorts zu Unverständnis“, weiß die Ärztin und verweist auf die festgeschriebenen Pflegerichtlinien, die von der Nahrungsaufnahme, über Stuhlgang bis zur Mobilität akribisch genau den exakten Bedarf ermitteln bis feststeht, welche Nummer der Patient in Zukunft tragen darf: die 1, 2, oder 3.

Die Bremer Sozialbehörde kann die Aufregung der Neustädter Heimleitung nicht teilen, gibt jedoch zu: „Am Kirchweg ist eine starke Umschichtung auf eine schlechtere Einstufung zu beobachten“, so Olaf Joachim, Sprecher der Sozialbehörde. Doch Bremen stehe da bisher im Bundesdurchschnitt „ganz kulant“ da. Auf die Sozialhilfe könne man nicht ganz verzichten: Von den rund 3.000 Heimbewohnern in Bremen hätten zum Jahreswechsel 80 Prozent Sozialhilfe bekommen. „Nach Anlauf der Pflegeversicherung für die stationäre Pflege rechnen wir mit 50 Prozent. Das ist eindeutig ein Rückgang“, so Joachim.

Der Aufschrei der Neustädter Heimleitung hat jedoch noch einen anderen Grund, den sowohl Sozialbehörde als auch die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) ausgemacht haben. „Die Heime haben Angst, daß sie bankrott gehen“, sagt AOK-Pflegeleiter Uwe Schneider. Heimleiter Michael Grauenhorst gibt ihm Recht: „Wir bekommen weniger Zuschuß von der Kasse, weil sie die Patienten niedriger einstufen. Doch der Pflegebedarf bleibt gleich.“ Er fürchtet, daß das Geld für die Personalkosten nicht mehr reicht. kat