: Artisten – immer Ärger „mit privat“
Der evangelische Pfarrer Wolfgang Leuschner reist zu und mit dem fahrenden Volk. Er kämpft gegen Vorurteile, tröstet bei Spannungen der Familienzirkusse mit den Behörden und tauft Kinder ■ Von Basil Wegener
Der Mann trägt seine Arbeitskleidung, abgewetzte Rennfahrerhandschuhe aus braunem Leder. Er hält das Steuer fest umklammert. Er ist ein wenig blaß und leicht unter Zeitdruck. Wolfgang Leuschner – Kurzhaarschnitt und getönte Brillengläser – sieht aus wie ein Handlungsreisender auf Tour. Als er im Schwarzwald an der „größten Kuckucksuhr der Welt“ vorbeifährt, stöhnt er. Er schätzt zwar effektvolle Präsentationen, eher aber solche mit zeitloseren Botschaften. Leuschner ist Pfarrer, zuständig fürs fahrende Volk.
Seine Fahrt endet neben bunten Zirkuswagen. Das kleine Haufendorf ist der Zirkus „Bross“, der gerade in Singen Station macht. Hunde streunen zwischen den Wagen herum. Langsam schlendert die Zirkusfamilie heran und begrüßt Leuschner artig, einige halten sich im Hintergrund.
Die Zirkusleute scheinen nicht viel von dem Mann zu wollen. Und was will er bei ihnen? Zunächst einen Kaffee. Leuschner war schon lange nicht mehr bei „Bross“. Er erinnert sich ein bißchen vage, daß das ein „Problemzirkus“ ist. Den Kaffee serviert Zirkuschefin Regina Frank in ihrem Wohnwagen. Nach Plausch ist der Frau nicht zumute: „Herr Pfarrer, ich sage Ihnen, das in Bopfingen waren so böse Menschen!“ Sie schimpft, weil die Bopfinger Stadtverwaltung den Zirkus trotz plötzlichem Schneechaos partout nicht in der Stadt überwintern lassen wollte. Sie funkelt ihn aus tiefschwarzen Augen an: „Wo hätten wir denn hinsollen?“
So ist das in der Welt der Fahrenden. Sie fühlen sich von den Seßhaften drangsaliert, wo's geht. Die Gemeinden verwehren den Zirkussen Wiesen und Hinterhöfe für Winterquartiere. Die Ordnungsämter lassen den Artisten die gehegten städtischen Plätze ungern für Vorstellungen. Und wenn doch, haben es die Zirkuskinder mit den örtlichen Lehrern schwer. Sie speisen die fremden Kinder immer wieder nur mit Abschreibübungen ab. Viele „von privat“, wie die bürgerliche Welt im Komödiantendeutsch heißt, geben den Menschen aus den Wohnwagen das Gefühl, sie seien asozial. Solche Vorurteile will der Zirkuspfarrer aus der Welt schaffen.
Anfang der achtziger Jahre, irgendwo in Hessen: Wolfgang Leuschner muß als junger Gemeindepfarrer einen Gottesdienst auf einer Varietébühne halten. Dort lernt er zum erstenmal Komödianten kennen, Fahrende. Er ahnt die Freiheit auf den Straßen, spürt, daß sich wunderbare Klischees bestätigen könnten. Zumindest dient den Reisenden kein Eigenheim mit Fertigbaugarage als Behausung im Diesseits. Aber sie pflegen den Familiensinn. Ohne sicheren Wintersitz und ohne sichere Gehaltskonten sind die von Großfamilien betriebenen Kleinzirkusse auf die Verwandten angewiesen. Auch die Alten steigen noch in die Manege, solange sie können. Leuschner lernte die Zirkusleute kennen, seine Zugeneigtheit wuchs, vielleicht auch ein wenig unbestimmte Sehnsucht.
Er bewarb sich 1984 auf die vakante Stelle im Süden. Heute ist Leuschner 47 Jahre alt und zieht als einer von drei Pfarrern der Zirkus- und Schaustellerseelsorge der Evangelischen Kirche Deutschlands an zweihundert Tagen im Jahr durch das Land: von Festplatz zu Festplatz zwischen Düsseldorf, Konstanz und München. Ein unsteter, aber – verglichen mit dem Zirkusdasein – sicherer Job.
Der Pfarrer ist einer der wenigen, der den Fahrenden zuhört. Und ihnen damit das Randgruppengefühl nimmt. Er kennt die Stolpersteine auf der ewigen Wanderschaft der Gaukler, die Spannungen in den stets zusammenhockenden Familien. Die Angst, daß unterwegs die Tiere, die Triebwagen, die Existenzbedingungen verlorengehen. Er kennt auch die Angst vor dem Publikumsschwund. Hier keimen auch die Konflikte mit „privat“. So hatte die Stadt Bopfingen durchaus ihre Gründe, den Zirkus „Bross“ lieber nicht bei sich in den Winterschlaf sinken zu lassen. Sie mußte den Wanderzirkus aus der kommunalen Sozialkasse unterstützen.
Das Gewitter hat sich verzogen, über den Spitzendeckchen im Wohnwagen scheint wieder die Sonne. Der Zirkuspfarrer fragt Regina Frank nach ihren Kindern. Da lächelt die Zirkuschefin auf wunderschöne Weise. Die meisten haben in andere Zirkusse eingeheiratet. Der Seelsorger beeindruckt Regina Frank, weil er die meisten Namen in der Branche kennt. Immer neue Querverbindungen zu anderen Zirkussen legt er frei, ein familiäres Netzwerk über die halbe Republik. Manche Stränge sind Generationen alt.
Als er geht, beginnen einige Artisten gerade erst den Tag. Aus dem etwas abgesetzt stehenden Zelt kommt auf unsicheren Beinen ein unrasierter Mann unklaren Alters heraus. Durch kleine Löcher in der Zeltplane fallen Spuren von Sonnenlicht ins leere Manegenrund. Das Ensemble macht einen fast trostlosen Eindruck. „Ohne die Chefin könnten die sich hier die Kugel geben“, murmelt der Pfarrer beim Abfahren.
Das Unternehmen „Bross“ ist nicht gerade auf Expansionskurs. Und das ist kein Einzelfall. Der Dresdner Zirkuspfarrer Klaus- Jürgen Meyer hat erklärt, er würde ganz allgemein eine „natürliche Auslese“ unter den Zirkussen begrüßen. Der Dresdner hat allerdings im Osten auch, anders als im Westen, viel krasse Abzockerei im Clownskostüm beobachtet. In manchen Städten hätten freche West-Zirkusse nach der Wende ein Dreivierteljahr lang in die Sozialtöpfe gelangt, ohne zu spielen, erzählt Meyer. Vielen Ost- Gemeinden sei da die Lust auf Clownerien aus dem Westen vergangen.
Wolfgang Leuschner ist nach Radolfszell gefahren. Dort gastiert Zirkus „Feraro“. Die Akrobaten und Dresseure kommen gerade aus der Nachmittagsvorstellung und begrüßen „unseren Herrn Leuschner“ mit einem großen „Hallooo“. In seinem weißen Hemd steht er da wie auf der falschen Fete zwischen den Artisten mit ihren Gelfrisuren, aufgebürsteten Koteletten und glitzernden Kostümen. Er darf jetzt nicht wie ein Prediger daherkommen, wenn er ernst genommen werden will. Und stimmt deshalb in den Umgangston der Leute von „Feraro“ ein. Beflügelt vom Beifall der Radolfszeller Kinder und von der frohen Wiederkehr des Gottesmannes, vollbringen die Komödianten das kommunikative Kunststück, alles gleichzeitig zu bereden. Leuschner gibt sich alle Mühe, die quietschvergnügte Seelsorge mit einem Mindestmaß an Erkenntnisgewinn für die Beteiligten zu versehen.
Jedem fällt etwas anderes ein. Das neue Programm unter einer Konkurrenzkuppel sei doch völlig daneben, mehr Erotik in der Manege als echte Zirkusnummern: „Die machen da einen richtigen Akt auf dem Trapez.“ Da rät Leuschner zum Abwägen: „Die versuchen halt was anderes, um zu überleben.“ Von den Anstrengungen einer Gemeinde auf der Alb, den Zirkussen ein Winterquartier zu verweigern, erzählt ein anderer. Den Fall kennt der Pfarrer, und diesmal schlägt er sich vorbehaltlos auf die Seite der Fahrenden gegen „privat“.
„Die sagen immer, die beim Zirkus können nicht lesen und schreiben“, sagt ein Artist: „Aber unsere Kinder konnten alle ganz früh ihren Namen schreiben. Und ich sage einmal eins: Die einen wollen Professor werden oder Rechtsanwalt, aber wir brauchen das gar nicht.“ Da wird Leuschner ganz ernst, und der Frohsinn verläßt die Runde. Er kenne schon zu viele, die Analphabeten geblieben seien, belehrt er die Leute von „Feraro“. Er kann die sonst oft rüden Reisenden als deren einziger Lobbyist schon mal ins Gebet nehmen.
Was hilft's? Was wird außer „Krone“, „Barum“, den „Althoffs“ mit ihren internationalen Artisten im Multimediazeitalter übrigbleiben von Trommelwirbel, Sägemehlstaub, von den etwa dreihundert deutschen Familienzirkussen? Zirkus bedeutet für Leuschner immer noch auch die Romantik des Fremden. Aber, sagt der Pfarrer, trotz aller Liebe zum Zirkusleben pragmatisch: „Wenn die in der nächsten Generation da rauswollen, geht das nur über Bildung.“
Bislang vertrauen die konservativen Kleinzirkusse darauf, daß alles bleibt, wie es ist: Erfahrungen werden von Generation zu Generation vererbt. Die Berliner Artistenschule, für DDR-Artisten einst Pflicht, kennen sie nur vom Hörensagen. Selbst der Hauptschulabschluß fehlt vielen. Die Kinder on the road besuchen in ihrem Schülerleben bis zu zweihundert verschiedene Schulen.
Der Soziologe Bernhard Claußen aus Hamburg ist Zirkusexperte. Einst hatte er vergeblich gefordert, daß Zirkusse wie Künstler gefördert werden. Aber an der Basis wird nicht lamentiert. Wolfgang Leuschner wirbt statt dessen bei den Ländern für mobile Schulen für Zirkuskinder. Bislang gibt es nur eine in Nordrhein-Westfalen. Und er möchte den Erfahrungsaustausch organisieren. Zu einem ersten Zirkustreffen der süddeutschen Zirkusse kamen aber von dreißig nur zwei. Wenn er nicht in ihre Wohnwagen steigt, sondern von zu Hause aus Treffen organisiert, dann ist Leuschner für die Artisten schon ganz schnell wieder ein Seßhafter.
Zwischendrin erbittet der Pfarrer auch mal den Beistand von ganz oben. Zu diesem Zweck führt er seine Kirche im Koffer mit: Kelch, Kerzen, Kruzifix.
Die Scheinwerfer leuchten. In Radolfszell ist die Familie Feraro zur Abendvorstellung in der Manege. Leuschner ist ihr Fan. Er sieht zu und bekommt kleine, steile Falten auf der Stirn, und sein Mund öffnet sich angestrengt einen Spaltbreit, als leere Weinflaschen ihre Stabilität in einer gefährlichen Akrobatiknummer unter Beweis stellen müssen. Die Lippen entspannen sich zu einem Lächeln, als sich die Familie Feraro von fetten, faulen Schlangen einwickeln läßt.
Während der Pause greift er dann zum Handy und ruft den nächsten Zirkus in Landsberg am Lech an. Leuschner wird erst weit nach Mitternacht ankommen, sein Campinganhänger wird Strom brauchen. Und dann wird der Mann das sein, was er wahrscheinlich am liebsten sein möchte: ein Fahrender unter Fahrenden. Wenn auch ein recht müder.
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