: Deutsche schlucken wieder mehr Pillen
■ Die Wirkung der Gesundheitsreform läßt nach: Im ersten Halbjahr 1996 haben die Krankenkassen in den westlichen Ländern 7,1 Prozent mehr für Arzneimittel ausgegeben als ein Jahr zuvor, im Osten sogar 16,1 Prozent
Bonn/Berlin (dpa/taz) – Ärzte verschreiben wieder mehr Pillen. Die Arzneimittelausgaben der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) in den westlichen Bundesländern sind im ersten Halbjahr 1996 gegenüber dem gleichen Vorjahreszeitraum um 7,1 Prozent kräftig gestiegen. In den östlichen Bundesländern gingen sogar 16,1 Prozent mehr Medikamente über die Apothekentresen, teilte der Bundesverband der Betriebskrankenkassen (BKK) gestern mit. Die BKK stützen sich dabei auf Hochrechnungen.
„Nachlassende Disziplin der Ärzte“ machen die BKK als Ursache für die Steigerung aus. Auch der Gesetzgeber wirke „störend“, meinte der Vorstandsvorsitzende des BKK-Bundesverbandes, Wolfgang Schmeinck. Nach Schmeincks Angaben könnten die Kassen Milliarden Mark sparen, wenn sie Medikamente mit umstrittener Wirkung (wie durchblutungsfördernde Mittel) nicht mehr bezahlen müßten. In den östlichen Ländern sei der Ausgabenanstieg auch durch verstärkte Verordnung neuerer und teurerer Medikamente verursacht.
Der Verband forschender Arzneimittelhersteller (VFA) warnte dagegen vor überzogenen Interpretationen. Tatsächlich werde das derzeitige Arzneibudget dem wachsenden Bedarf an hochwirksamen Medikamenten nicht gerecht. Der finanzielle Druck auf den verschreibenden Arzt begünstige die Verschreibungshäufigkeit der Generika (sogenannte Discount-Arzneimittel, zum Beispiel ratiopharm). Wenn auf Druck der Kassen nur noch das billigste Arzneimittel verordnet werden solle, drohten Qualitätsverluste. Dem VFA gehören große Pharmakonzerne an wie Hoechst, Schering und Bayer. Laut VFA wurden schon in den Jahren 1993 bis 1995 an Medikamenten 9,6 Milliarden Mark eingespart. Die Finanzentwicklung für die BKK schätzte Schmeinck günstig ein. Dank einer zwölfprozentigen Zuwanderung von freiwillig Versicherten mit Monatseinkommen über 6.000 Mark wuchsen die BKK-Einnahmen mit 4,1 Prozent stärker als die Leistungsausgaben je Mitglied mit einem Plus von 2 Prozent. Die BKK gehen deswegen von einem stabilen Beitragssatz (derzeit 12,6 Prozent) bis etwa Mitte 1997 aus. Der durchschnittliche Beitragssatz aller gesetzlichen Kassen liegt derzeit bei 13,5 Prozent im Westen und 13,6 Prozent im Osten.
Schmeinck erklärte, er könne sich der von anderen Kassen geäußerten „Dramatisierung“ der Finanzlage der gesetzlichen Kassen nicht anschließen.
Der Bundesverband der Innungskrankenkassen (IKK) hatte für die gesamte GKV ein Defizit von rund sieben Milliarden Mark bis zum Ende dieses Jahres vorausgesagt.
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