: Schuhlöffel für Gäste
Das „Scharlatan Theater“ bedient sein Publikum auf ziemlich ungewöhnliche Weise ■ Von Knut Henkel
Lampenfieber hat der Schauspieler Deed Knerr kaum noch. An diesem Nachmittag macht er sich mit fünf KollegInnen auf den Weg ins Spital: Bei der Betriebsfeier des Lübecker Marienkrankenhauses sorgt das Hamburger Scharlatan Theater mit dem Stück „Kollege kommt gleich“ für den bunten Rahmen.
Das Scharlatan-Theater hat keine eigene Bühne und seine Stücke keinen festen Text. Auch jede Aufführung von „Kollege kommt gleich“ sieht anders aus. „Nur die Eingangssätze gleichen sich; das sind unsere ,Schuhlöffel', mit denen wir an die Leute herankommen“, sagt Knerr.
Im Marienkrankenhaus stellen sie sich als KellnerInnen des „Gesellenhauses“ vor, eines Restaurants um die Ecke. Selbstverständlich bringen die sechs Scharlatane Getränke, räumen Gläser ab. Aber dann beginnt das Personal allmählich aus der Rolle zu fallen: Mal verblüffen die Kellner durch extreme Höflichkeit, mal entpuppen sie sich als trockene Komiker und immer improvisieren sie miteinander und mit den Lübecker Ärzten, Pflegern und Schwestern.
Begonnen haben Ali Wichmann und Deed Knerr vor elf Jahren mit Straßentheater. Die unsicheren Einkünfte besserten sie beim Kellnern in der „Filmhauskneipe“ auf und entdeckten, daß sich das dröge Einerlei des Services in mehrerer Hinsicht aufbrezeln ließ. Sie griffen auf das Kellnerbild der 20er Jahre zurück: betonte Höflichkeit, dezente Warnungen vor der Wirkung gewisser Getränke, kleine Scherze hier und da. Als noch kaum jemand an „Erlebnisgastronomie“ dachte, brachten sie ihre Straßentheatererfahrungen ins Bedienungswesen ein. Bald hatten sie weniger in der „Filmhauskneipe“, dafür aber auf Einladung bei Privatparties zu tun.
Mittlerweile gehören sieben SpielerInnen zum Ensemble, ein gutes Dutzend SchauspielerInnen wird bei Bedarf engagiert. Bei den bis zu 300 Auftritten im Jahr schwankt der Umfang der Besetzungsliste zwischen zwei und 30 AkteurInnen. Im neuen Büro an der Gotenstraße sind sechs Angestellte damit beschäftigt, die Auftritte zu koordinieren. Hinter dem Büro sind zwei Proberäume samt Garderobe und Fundus.
Für die Schauspieler ist jeder Abend Routine und Herausforderung zugleich: jede Fachmesse, Hochzeit, Betriebsfeier oder Jubiläumsfeier ist anders. Manchmal spielen sie vor sechs, manchmal vor 3000 Gästen. Mal im Festzelt, mal auf einem Schiff, mal in einer Eckkneipe oder im Fünf-Sterne-Hotel. „Wir müssen vorher wissen, welche Gäste uns erwarten, was Anlaß oder Thema des Abends ist. Schwer wird es bei extrem gemischten Publikum, da müssen wir als Kellner besonders sensibel vorgehen“, sagt Deed. Auch in englisch und französisch bieten die Scharlatane ihr Programm an, 50 mal traten sie 1995 im Ausland auf. Und bei zwei Millionen Mark Umsatz im Jahr verordnet sich das Theater stets Fortbildungen mit Dramaturgen, Schauspiellehrern und Regisseuren.
Für jeden wird allerdings nicht gespielt: „Was wir nicht machen ist Animation oder Firmen- und Produktwerbung,“ betont Ali Wichmann. Auftritte bei großen Firmen ja, aber eben keine Werbung. Rüstungsfirmen, AKW-Betreiber und Ausrüster werden gar nicht bedient.
Nicht nur als Kellner agieren die Scharlatane. Als Straßenkehrer in orangefarbener Sicherheitskleidung sorgen sie für Aufruhr in Einkaufszonen, als „Wachdienst Argus“ kontrollieren sie die Einkaufstaschen von Kaufhauskunden oder kontrollieren die nicht vorhandenen Eintrittskarten für die eine oder andere Veranstaltung. Technisch besonders raffiniert ist das „Fest im Focus“, bei dem Fotografen die Gäste in Schnappschüsse festhalten und diese wenig später in einem Diavortag süffisant kommentiert werden.
Im Lübecker Marienkrankenhaus werden die vorwitzigen Kellnerinnen und Kellner so schnell nicht vergessen werden.
Scharlatan Theater, Gotenstraße 6, 237103-0
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