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■ Sie leben ganz unten wie Ratten und fühlen sich obenauf wie Könige: Die Bewohner der Eisenbahntunnels von New York sind die konservative Elite unter den Obdachlosen der Metropole Text und Fotos: Teun VoetenHerren der Unterwelt

Herren der Unterwelt

Die Welt up top glaubt, wir seien eine Bande von Alkohol- und Drogenabhängigen“, sagt Bernard. Entspannt lehnt sich der gutaussehende Schwarze, Mitte 40, zurück in seinem Bürosessel, die Füße über dem Feuer baumelnd. „Aber wenn du hier unten überleben willst, bist du von drei ganz anderen Sachen abhängig: Wasser, Nahrung und Brennholz. Das hier ist kein Ort für Crackheads.“

Der Lord of the Tunnel, die Kapuze seines Sweatshirts über die Dreadlocks gezogen, zeigt auf die Feuerstelle mit dem angekokelten Rost. „Unser Grill. Hier kochen wir.“ An einem der Stahlträger stapeln sich alte Sonntagsausgaben der New York Times, daneben liegen ein paar Bretter. „Zum Feuermachen“, erklärt Bernard. „Und hier, sieh mal: Küchengeräte ohne Ende, alles gefunden auf den Bürgersteigen Manhattans.“ Eine bunte Ansammlung von Töpfen, Kesseln und Pfannen liegt verstreut unter dem gigantischen Graffito an der Tunnelwand, bedeckt mit einer dünnen Schicht Staub und Asche. Auf dem Grill weichen Messer und Gabel in einem Topf mit Spülwasser.

„Obdachlos? Ich habe hier mein Zuhause“, sagt Bernard. „Wer von denen da oben kann schon sagen, er hätte ein Wohnzimmer so lang wie 20 Blocks. Bevor ich hier einzog, wohnte ich in einem schäbigen Hotel, zehn Dollar die Nacht für einen Verschlag, wo du nicht mal deinen Arsch bewegen konntest. Überall Dreck, Chaos und Lärm um dich herum. Im Tunnel herrscht Ruhe. Hier fand ich endlich peace of mind. Das einzige jedoch, was euch Journalisten oder Sozialarbeitern bei uns auffällt, sind die Ratten, leere Weinpullen und die Crack- Kanülen. Aber hör mal, das alles gibt es oben auch. Alles, was die up top haben, haben wir hier auch. Der Dreck? Na ja, die Müllabfuhr kommt nur unregelmäßig vorbei...“

Schrilles Pfeifen unterbricht plötzlich Bernards Monolog, ein grelles Scheinwerferlicht taucht in der

Ferne auf und erleuchtet die finstere Säulengalerie. „Da kommt der 14 Uhr 30 aus Ohio!“ schreit Bernard und springt hoch aus seinem Sessel. Er stellt sich ans Gleis und winkt dem Fahrer. Der antwortet mit einem ohrenbetäubenden Signal. Mit einem Affenzahn rast die silberne Lok samt Waggons vorbei, durch den Sog haut es uns fast um. „Immer wieder ein aufregender Anblick“, meint Bernard, als die roten Lichter am Ende des Zuges um die Ecke verschwinden. Staub und Dieselgeruch bleiben im Tunnel hängen. Zehn Züge fahren täglich durch Bernards Wohnzimmer. „Man gewöhnt sich daran, aber es bleibt gefährlich“, warnt der frühere Journalistik-Student und Dressman aus Florida, der seit acht Jahren im Tunnel lebt. „Vor allem wenn du gerade unter den Luftschächten entlanggehst, besteht die Gefahr, daß du durch den Straßenverkehr draußen das Geräusch des anstürmenden Zuges überhörst.“

Franky, 24, ist voll ausgestattet. „Sie nennen uns Obdachlose“, sagt der feiste Skinhead. „Aber jetzt sag mal ehrlich: Ist das hier etwa nichts?“ Er macht eine ausladende Geste mit der rechten Hand. „Okay, ich gebe ja zu, es ist nicht gerade komfortabel. Dafür aber mietfrei. Siehst du den Fernseher da? Dreißig Kanäle. Umsonst. Elektrizität? Wie haben zwei Anschlüsse, der Strom kommt aus dem Park. Noch nie eine einzige Rechnung gesehen.“ Franky stammt aus North Carolina. Seine Eltern kamen durch einen Autounfall ums Leben, als er 16 war. „Wenn die Leute up top ihre fucking jobs verlieren – ich schwöre dir, 95 Prozent von denen könnten hier unten nicht bestehen. Im Sommer ist es okay, aber im Winter ... I tell you. Ganz schön harte Arbeit, bei 10 Grad minus die großen Kanister mit Wasser hierherzuschleppen. Im Sommer, wenn die Mütter mit ihren Kinderwagen im Park sind, da kommst du vorbei mit deinem Einkaufswagen voller Sachen – und die gucken dich an, als seist du ein Stück Dreck. Als ob sie sich deinetwegen schämten. Dabei sind sie es, die sich schämen sollten, daß wir ihnen peinlich sind.“

Später am Abend schaue ich wieder bei Bernard rein. Die Crackpfeifen sind leergeraucht, Orangensaft wird gereicht. Bernard erzählt aufgeregt, wie er heute von einem Sozialarbeiter „dumm angequatscht“ wurde. „Der hatte seinen grünen Allradantrieb am Nordeingang des Tunnels geparkt und schleimte sich ein: Wir sind da, um euch zu helfen, wir können euch Wohnungen besorgen. Fuck it, Wohnungen. Irgend so 'n Loch wird er gemeint haben. Und dann traut der sich sogar zu sagen: Wenn du ,ein Problem‘ hast, kann ich einen Entzug organisieren. Also echt, so eine Beleidigung. Der könnte selber einen Entzug ganz gut gebrauchen.“

Bernard, der in seiner Zeit als Drogendealer Tausende von Dollar die Woche verknallte, kennt sich aus im Leben. „Wir sind denen im Grunde völlig egal“, tobt er, „they don't give a fuck. Alle geben sie vor, uns unbedingt helfen zu wollen. Aber hey man, ich lebe nun schon acht Jahre hier unten, ich weiß, wie's geht. Wir sind keine Obdachlosen, wir haben hier ein prima Zuhause. Viele Leute beneiden uns sogar um unser Leben, denn wir müssen nicht jeden Tag die Karte in die Stechuhr schieben.“

Auch Kathy hat mit Obdachlosenhilfsvereinen nichts am Hut. „Uns wollen die sowieso nicht helfen“, sagt die junge Frau, die auf der Straße landete, als sie den Erwartungen ihrer Familie nicht gerecht werden konnte, ihr Jurastudium schmiß und auch einem Tippjob nicht gewachsen war. „Denn wir sind weiß und nicht drogenabhängig. Ein schwarzer Crackhead und ein schwarzer Alkoholiker dagegen können überall anklopfen. Ehrliche Leute wie uns lassen die verrecken.“

„Recht hast du“, pflichtet Franky ihr bei. „Als ich obdachlos wurde, versuchte ich Stütze zu beantragen. Da jagten die mich glatt aus dem Amt. Sagten, du bist weiß und gesund, go out and get a job. Und ob du's glaubst oder nicht – jeder Schwarze, der da reinging, kam kurze Zeit später mit einem fetten Scheck wieder rausspaziert.“ Franky kommt wie Bernard und einige andere im Tunnel auf bis zu tausend Dollar im Monat, indem er leere Aludosen einsammelt und bei den Supermärkten das Pfandgeld kassiert. Wie manche beim Sozialamt „abzocken“, darüber erregt er sich. „Ich bin kein Rassist. Aber es gibt ein Volk, das ich abgrundtief verachte. Jedesmal, wenn mir einer von denen auf der Straße begegnet, spucke ich ihm ins Gesicht. Das sind die verfluchten Schlitzaugen – 'cos what they did to my father and what they did to Joe.“ Der Vietnamkrieg ist im Tunnel noch nicht zu Ende. Frankys Vater wurde von den Vietcong gefangengehalten. „Siebzehn Monate haben sie ihn gefoltert. Er konnte zwar entkommen, aber er ist nie wieder der alte geworden.“

Auch Joe war in Nam. Ab und zu leide der 54jährige an Flashbacks, sagt seine Frau Kathy. „Ich fürchte mich richtig vor ihm, wenn er zuviel getrunken hat. Dann redet er wirres Zeug im Schlaf.“ Joe lebt seit zwanzig Jahren im Tunnel. „Ich mußte die Alpträume loswerden, deswegen bin ich hier runter. Hier hab' ich wenigstens keinen Ärger mit den Behörden.“

1957 war Joe zur Armee gegangen. Sieben Jahre später fand er sich in Vietnam wieder – für vier lange Jahre. „Dreihundert Jungs zählte unsere Division. Gut fünfzig sind noch am Leben. Viele sind erst nach ihrer Rückkehr aus Nam gestorben – Agent Orange.“ Auch seine fünf Töchter seien an den Spätfolgen des berüchtigten Entlaubungsmittels gestorben, das die US- Army im Vietnamkrieg einsetzte. Zwei kamen tot zur Welt, zwei weitere starben im dritten Lebensjahr, seine Älteste starb mit 16 – da lebte Joe schon auf der Straße. Joe hat aus dieser Zeit Anspruch auf eine Rente, aber er will sie nicht. „Einmal habe ich es versucht“, sagt er. „Sie wollten mich mit 10 Prozent der Summe abspeisen, die mir eigentlich zusteht. Told'm to go to hell.“

Heiligabend. Eiszapfen hängen von der Tunneldecke herunter und tropfen. Vor Clarence' Bude brennt ein Feuer im Ölfaß. „Opfer des Systems? Fuck it“, sagt Bernard, der Philosoph. „Eigentlich sind wir das auserwählte Volk. Sieh dich doch um, feel the vibes. Ruhe, Frieden, Stille. Die ganze Welt besteht aus Vibrationen. Und wenn du etwas von Religion verstehst, weißt du, daß alle Propheten und Heilige sich in die Wüste oder in die Wildnis abgesetzt haben. Das hat seinen Grund.“

„Tunnelmenschen“. Atlas: Amsterdam/

Antwerpen, 1996.

Übersetzung: Henk Raijer

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