: Unsichtbar lauert der Sparzwang
Heinrich A., Henriette Sch. und Friedel R., die trotz ihrer Gebrechen und Behinderungen ein menschenwürdiges Leben führen können, ist eines gemeinsam: Sie würden es nicht überleben, wenn ihre Betreuungseinrichtungen eingespart werden müßten ■ Von Niko Jahn
Das Land Berlin und die Bezirke müssen sparen. Soziale Projekte rangieren auf der Prioritätenliste meist ganz unten. Was passiert eigentlich, wenn soziale Einrichtungen wie betreutes Alterswohnen oder gerontologische Tagesstätten nicht mehr finanziert werden können? Die taz hat drei Menschen getroffen, beispielhaft für Tausende, für die Einsparungen im sozialen Bereich existentielle Folgen hätten.
Der Fall Heinrich A
Heinrich A. (63) ist ein Filou von der Sorte, die gut ankommt. Er grinst schlitzohrig, wenn er von Frauen spricht, von seinen drei oder vier Ehefrauen und von den unzähligen Frauen, die seinem Charme erlegen sind. Es müssen Hunderte gewesen sein. Er ist halt ein Genießer, pafft eine Zigarre nach der anderen, bindet sich jeden Tag einen Schlips ans weiße Hemd, malt manchmal ein Bild und archiviert aus der täglichen Zeitung sein Deutsches Personenarchiv. A. ist auch ein Schöngeist. Er habe Malerei und Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität in Berlin studiert, sagt er. Und er habe ein Buch über Berliner Friedhöfe geschrieben.
Was wahr ist an seinen Erzählungen, weiß niemand. Er selbst auch nicht, denn A. ist seit Jahrzehnten Alkoholiker. Der Alkohol hat sein Gehirn zerstört, er leidet am Korsakow-Syndrom.
A. weiß nicht mehr, wie sein Leben wirklich verlief. Seine Erinnerung hat er aus Erinnerungsfetzen aufgebaut, seine Biographie besteht aus Fragmenten, der Rest ist Konfabulation. Wo etwas fehlt an der Biographie, wird dazugedichtet. Aber auch das weiß er nicht. Auch nicht, wann er sein Zimmer aufräumen muß, in welchem Stockwerk er wohnt, wieviel Taschengeld er noch für den Monat hat.
Sein „Deutsches Personenarchiv“ umfaßt Hunderte wichtiger Persönlichkeiten, aber er schneidet auch die Todesanzeige eines Metzgermeisters aus Wilmersdorf aus und ordnet sie akribisch ein. Nach einem System, das außer ihm niemand versteht.
Heinrich A. hat viele Jahre auf der Straße zugebracht, hat manchmal in Kliniken gelebt, ist immer wieder abgehauen. Auch noch ein paarmal, nachdem er Ende 94 in eine Wohngemeinschaft für Korsakow-Kranke gekommen war. Heinrich A. hat auch das vergessen. Manchmal fragt er, ob er denn schon seit einem Monat da sei.
Am Anfang war er sehr aggressiv gegen Mitbewohner und Betreuer, beschimpfte sie als Idioten, hielt niemanden eines Gesprächs mit ihm, dem Hochgebildeten, für würdig.
Irgendwann hat er sich an die WG gewöhnt, an das eigene Zimmer, die Regelmäßigkeit des Tagesablaufs, auch daran, daß es nichts Alkoholisches zu trinken gibt. Er liebt sein eigenes Zimmer, auch wenn er so etwas niemals zugeben würde. Eigensinnig ist er geblieben.
Hin und wieder knurrt er auch noch trotzig, besonders, wenn er sich die Nägel schneiden muß. Aber sein joviales Gehabe („Wie geht es Ihnen, mein Lieber?“) und das zufriedene Grinsen strafen ihn Lügen. Er scheint begriffen zu haben, daß es ihm endlich bessergeht. Er könnte auf die Straße gehen, sich zu den Weggefährten von einst gesellen, die hinter der Markthalle gleich nebenan auf der Bank sitzen, den Flachmann neben der Plastiktüte.
Aber er bleibt lieber zu Hause, auf seinem Zimmer. Manchmal lasse er sich sogar auf ein Gespräch mit den fünf Mitbewohnern ein, sagt er. Auch wenn's unter seinem Niveau sei.
Wenn Heinrich A. aus Kostengründen in die Klinik zurückgebracht würde, wäre das sein Ende. Er würde es nicht aushalten im Heim und immer wieder ausbrechen. Er würde wieder trinken, tagelang umherirren. Aufgegriffen, ausreißen, saufen. Wenn er trinkt, bekommt er epileptische Anfälle. Wenn er seine Medikamente nicht regelmäßig bekommt, werden sich die Anfälle verschlimmern. Das kann tödlich sein, zumal Heinrich A. ein schwaches Herz hat.
Der Fall Henriette Sch.
Henriette Sch. (94) ist ein sehr zartes Persönchen. Schönheit im Gesicht, die nie vergeht. Manchmal lächelt sie, aber meistens zieht sie sich in sich zurück und zu ihren Erinnerungen. Sie sitzt auf ihrem Stuhl und schweigt. Früher sei sie eine wirkliche Dame gewesen, immer geschmackvoll gekleidet, kultiviert, Opern-Liebhaberin, sagt die Tochter und lächelt. („Die hätten Sie mal sehen sollen!“) Sie ist noch heute eine wirkliche Dame. Auch wenn fast nichts mehr richtig klappt.
Sie kann sich kaum bewegen, spricht nicht mehr. Sie ist manchmal trotzig wie ein Kleinkind, weigert sich sogar, auf die Toilette zu gehen, ißt mit den Fingern. Doch in der geronto-psychologischen Tagesstätte ist sie die Kleine und Feine. Henriette Sch. leidet an Demenz, ihre Hirngefäße sind verkalkt.
Sie lebt bei Tochter und Schwiegersohn. Seit zwei Jahren wird sie morgens abgeholt und in die Tagesstätte gebracht. Anfangs konnte sie nichts mehr selbst machen. Jetzt kann sie sich wieder ihr Frühstücksbrötchen zubereiten.
Henriette Sch. fühlt sich sichtlich wohl hier. Über den Grad ihrer Vereinsamung bestimmt sie selbst. Sie kommuniziert wieder, wenn auch sehr verhalten. Ein Lächeln geht zur alten Dame auf dem Stuhl nebenan. Die sendet eines zurück.
Sehr wichtig ist die Tagesstätte auch für Tochter und Schwiegersohn. Sie pflegen die Mutter schon seit vielen Jahren. Beide fühlen sich überfordert, besonders der Schwiegersohn. Henriette Sch., die tagsüber sehr ruhig scheint, ist nachts ein sehr unruhiger Geist. Ihr nächtlicher Lärm, daß sie stundenlang greint wie ein Kleinkind, sich permanent einkotet, macht ihnen schwer zu schaffen. Beide waren am Ende, als die Mutter endlich den Platz in der Tagesstätte bekam.
Die Betreuer haben in Gesprächen mit Tochter und Schwiegersohn eruiert, ob sie die Pflege der Mutter abends und in der Nacht bewältigen können oder ob sie in ein Heim eingewiesen werden solle. Beide haben das aus moralischen Gründen abgelehnt. Wenn die alte Mutter tagsüber in der Tagespflege betreut werde, würden sie die restlichen Stunden schon schaffen. Alles ist gutgegangen. Tochter und Schwiegersohn können arbeiten gehen, sich von den Strapazen der Nächte erholen.
Wenn die Tagesstätte geschlossen werden müßte oder niemand mehr die Kosten für Henriette Sch. übernähme, müßte sie ins Pflegeheim, denn allein werden es Tochter und Schwiegersohn nicht schaffen. Auch nicht, wenn die Pflegeversicherung zahlt. Die beiden müssen arbeiten, um ihr Häuschen abzubezahlen. Und sie haben an den unruhigen Nächten schwer zu tragen. Henriette Sch. würde die Trennung von Wohnung und Kindern nicht verkraften, sich allein gelassen fühlen und auf den Tod warten.
Der Fall Friedel R.
Friedel R. (74) fühlt sich jung und schön. Ihre blauen Augen blitzen, wenn sie von ihrer Zeit als BdM- Mädchen erzählt, als wäre das „Tausendjährige Reich“ nicht schon 1945 untergegangen. Heute ist das Leben wunderbar! Sie hat endlich wieder einen eigenen Mann, sogar eine eigene Wohnung, und gebraucht wird sie auch. „Friedel hier, Friedel da!“ geht es an manchen Tagen. Meistens ist Friedel kommunikativ, hilft gern.
An anderen Tagen ist sie streitsüchtig, ihre Augen blicken finster, die Hände zittern. Sie hat Angst, fühlt sich alt und häßlich. Dann holt sie den Kaffee nicht, ist zu jedem Streit bereit.
Friedel R. ist schizophren, leidet an einer chronischen halluzinatorischen Psychose. Wahrscheinlich war sie beim BdM (Bund deutscher Mädchen), vielleicht ist sie nach dem Krieg auch Kommunistin geworden und später der SED beigetreten, wie sie erzählt. Fest steht, daß einige nationalsozialistische Ideale aus ihrer Jugendzeit ihr Denken noch heute bestimmen („Ich kann nun mal Ausländer nicht ausstehen!“), daß sie Kontoristin von Beruf ist, nach dem Tode der Mutter den Vater gepflegt hat. Schon damals, so sagt sie, habe sie immer Kopfschmerzen gehabt. Eines Tages seien Wärter gekommen und hätten sie wegen der Kopfschmerzen ins Krankenhaus gebracht. Das war 1952. Friedel R. verbrachte vierzig Jahre in Nervenkliniken. Bis sie ins Betreute Alterswohnen kam und dort enthospitalisiert wurde. Sehr erfolgreich. Die eigene Wohnung ist die erste in ihrem Leben.
Friedel R. hat sich einen Altenpfleger zum „eigenen Mann“ erkoren, der fast vierzig Jahre jünger ist als sie. Sie glaubt mit ihm verheiratet zu sein, und er spielt die Rolle des Ehemannes geduldig mit, bis sie, wie er hofft, einen anderen findet oder gar keinen mehr braucht. Natürlich hat das alles nichts mit Sexualität zu tun, aber der arme Kerl muß gewisse Spielregeln einhalten, mit ihr frühstücken, den Tagesablauf besprechen, mal mit ihr einkaufen gehen, mit ihr verreisen. Und eifersüchtig ist sie auch. Dann beschimpft Friedel R. alle weiblichen Mitarbeiter des Hauses oder verfällt in Weinkrämpfe. Sie hat offenbar Angst, ihn zu verlieren. So wie sie Angst hat, ihre eigene Wohnung wieder zu verlieren. Einer Freundin ist das passiert.
Auch wenn Friedel R. mit dem Tagesablauf nicht immer ganz klarkommt, manchmal vor lauter Langeweile schon um zehn Uhr zu Mittag gegessen hat und nicht immer weiß, wann sie was einkaufen muß, aufgeben möchte sie ihr jetziges Leben nie mehr. Nach über vierzig Jahren in der Klinik kann sie endlich selbst bestimmen, wann sie ihr Bett macht, wann sie fernsieht, wann sie zu Mittag ißt.
Für Friedel R. wäre die Rückkehr ins Hospital die Hölle. Sie würde alles verlieren, was ihr wichtig geworden ist: den „eigenen Mann“, die Wohnung, die Freiheit. Sie würde ihre Fähigkeit verlieren, weitgehend selbständig zu handeln, und vereinsamen, wovor sie die größte Angst hat. Sie würde psychisch zusammenbrechen, auch körperlich abbauen. Das wäre die endgültige Zerstörung ihrer Persönlichkeit.
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