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■ „Westliche Interessengemeinschaft“ versus „ostzonale Gemeinschaft“? Eine Polemik wider ignorante WestlinkeKein Spielfeld für Ressentiments

Auf der Suche nach den Ursachen für die gegenwärtigen Dissonanzen im deutschen Einigungsprozeß fällt der westdeutschen Linken die Antwort in der Regel nicht schwer: Die Bundesregierung hat durch ihre verfehlte Politik die Einheit in den Sand gesetzt. Doch gerade wo es um Kommunikationsstörungen zwischen Ost- und Westdeutschen geht, täte auch die Linke gut daran, ihre eigenen Versäumnisse und Haltungen genauer unter die Lupe zu nehmen.

Nicht nur den Konservativen, die geglaubt hatten, daß mit dem Untergang der DDR auch die affektiven Bindungen an das Leben in der DDR automatisch verschwinden würden, sondern auch den 68ern fehlt das Verständnis für die spezifischen Lebenserfahrungen der Ostdeutschen. Nach einer kurzen Phase der Begeisterung für die Herbstrevolutionäre und die in Bewegung geratene Bevölkerung, von der man sich Impulse für eine grundlegende Reform des westlichen Parteienstaates erwartete (Stichwort: Runder Tisch), hat sich die Westlinke enttäuscht von den Ostdeutschen abgewandt.

„Aus dem Osten nichts Neues“, so lautet seither der niederschmetternde Befund. War noch vor 1989 die Orientierung der Bundesrepublik am Modell der westlichen Kultur und Zivilisation durchaus nicht unumstritten, so wendete sich jetzt das Blatt: Unversehens verkörperte der Osten all das, was man im Prozeß der erfolgreichen Verwestlichung der Bundesrepublik hinter sich gelassen zu haben glaubte: Harmoniesucht, Konfliktunfähigkeit, Gemeinschaftsbezogenheit, nationalborniertes statt universalistisches Denken beispielsweise.

Tatsächlich lassen sich für dieses Klischee durchaus Hinweise in der politischen Kultur der alten DDR finden. Nicht nur der SED, sondern auch kritischen DDR-Intellektuellen und Bürgerrechtlern war eine nach westlichem Vorbild organisierte Gesellschaft, die einen politisch nicht steuerbaren Interessenpluralismus zur Grundlage hat, suspekt. Von Bürgerrechtlern hörte man nicht selten, daß „das öffentliche Austragen interessengeleiteter Konflikte als Fehlentwicklung der westlichen Kultur“ begriffen werden müsse.

Solche Vorbehalte gegenüber der westlichen Interessengesellschaft nehmen Westlinke heute gern zum Anlaß, um den Ostdeutschen ihre harmonieträchtigen Gemeinschaftsvorstellungen um die Ohren zu hauen. So schreiben zum Beispiel die beiden westdeutschen Zeitgeistautoren Richard Herzinger und Hannes Stein in ihrem Buch „Endzeit-Propheten oder: Die Offensive der Antiwestler“: „Die Masse der Ostdeutschen kommt mit den Zumutungen der offenen Gesellschaft nicht zurecht. Sie will zurück in den Feudalismus, wo die Gutskammern zwar nur spärlich gefüllt waren, dafür aber jeden Abend zuverlässig die lauwarme Suppe auf dem Tisch stand. Daß auch ehemalige Oppositionelle von diesem bösartigen Krebsleiden befallen sind, ist sozialpsychologisch bemerkenswert.“

Eine symptomatisch Aussage für jenen Teil der westdeutschen Linken, der sich heute als Gralshüter der verwestlichten Bundesrepublik aufspielt und dem jegliches Verständnis für die Schwierigkeiten der Ostdeutschen im Umgang mit der neuen Unübersichtlichkeit abgeht. Dabei fehlt ihnen nicht nur das Einfühlungsvermögen für die Leistungen vieler Ostdeutscher, die sich trotz dieser Schwierigkeiten in einem mühsamen Prozeß auf die sozialen Codes und politischen Regeln „des“ Westens eingelassen haben. Sie übersehen in ihrer Polemik, daß lebensweltliche Gemeinschaften in allen ostmitteleuropäischen Gesellschaften wichtig gegenüber den atomisierenden und spaltenden Tendenzen des totalitären Systems war.

Auch in der DDR hatten gemeinschaftliche Verbindungen, selbst wenn sie der Kompensation der ökonomischen und politischen Strukturdefizite dienten, eine wichtige kommunikative Bedeutung. Ohne solche Verbindungen hätten, worauf Wolfgang Engler zu Recht hinweist (siehe taz vom 9. 8. 96), elementare Leistungen für die Bewältigung des Lebensalltags von den DDR-Bürgern nicht erbracht werden können. Insofern war die DDR viel gemeinschaftsbezogener als die Bundesrepublik. Die mit der jetzigen ökonomischen und sozialen Dynamik verbundenen Differenzierungs- und Individualisierungstendenzen werden von vielen Ostdeutschen als Verlust gemeinschaftsbezogener Verbindungen erfahren.

Anstatt diese Erfahrung nur als zivilisatorisches Defizit der „gemeinschaftsbornierten“ Ostdeutschen zu sehen, wäre es für die Westlinke gerade darauf angekommen, die Abwehr eines Teils der ostdeutschen Gesellschaft gegenüber den Zumutungen der westlichen Gesellschaft zunächst einmal als „gesunde“ Reaktion auf die Folgen einer beschleunigten Modernisierung zu verstehen. Auch Menschen aus dem Westen sind nicht frei von solchen Verlusterfahrungen. Der kommunitaristische Diskurs in den letzten Jahren zeigt die Kompensation von Modernisierungsschäden im Rahmen der Rückbesinnung auf gemeinschaftliche (Ver-)Bindungen.

Dies in Erinnerung zu rufen und zur Grundlage eines auf Verständigung zielenden Dialogs zu machen, bedeutet nicht, die vermeintlich „gute“ und „warme“ Ostgemeinschaft gegen die „schlechte“ und „kalte“ Westgesellschaft auszuspielen. An einer solchen Polarisierung kann nur eine Partei Interesse haben, die „in der Rede vom Wir (Ost) die inneren Unterschiede und Spannungen unterschlagen“ muß, die innerhalb der DDR-Gesellschaft existierten und die sich bis heute als Streit zwischen Tätern und Opfern, Mitläufern und Abweichlern erhalten haben“, so Dieter Thomä, Philosoph an der Universität Rostock, 1995 in einem Beitrag für die Deutsche Zeitschrift für Philosophie.

Die kulturellen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen, die sich zwangsläufig aus der Unterschiedlichkeit systemischer Vorgaben, gelebter Lebensformen sowie gewohnter Ansprüche und Bedürfnisse ergeben, sind kein Spielfeld für das Schüren antiwestlicher Ressentiments. Es geht darum, daß das legitime Anliegen vieler Ostdeutscher, mit ihren Erfahrungen und Anliegen in der gesamtdeutschen Gesellschaft stärker Gehör zu finden, nicht länger ignoriert wird. Lothar Probst

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