: Das Pferd mal wieder am Schwanz aufgezäumt
■ betr.: „Wagenburgler fühlen sich als Minderheit“, taz vom 20. 8. 96
CDU-Fraktionschef Landowsky fordert die Räumung aller Berliner Wagenburgen. Doch weshalb? Die Wagenburgen schädigten das Ansehen der Stadt, ihre Bewohner seien Nichtseßhafte, für die es in der Stadt keine Infrastrukturen geben dürfe, die man auf Stadtgüter außerhalb der Stadt zwangsumsiedeln müsse, damit die Beeinträchtigung der „normalen“ Bevölkerung relativ gering bleibe.
Innensenator Schönbohm trompetet lautstark ins selbe Horn: Die Wagenburgen würden das Ansehen der Stadt und den Stolz der Berliner auf ihre Stadt empfindlich beeinträchtigen.
Ich wohne seit fünf Jahren in der Treptower Wagenburg Lohmühle am Landwehrkanal. Am gleichen Platz, im gleichen Wagen. So, Herr Landowsky, sieht also Ihre Nichtseßhaftigkeit aus. Unsere Anwohner besuchen uns, bringen Futter für die Hunde, feiern mit uns unser Sommerfest. Soviel zur Beeinträchtigung der Bürger.
Normal sind wir übrigens alle, die Anwohner ebenso wie wir. Künstler aus vielen Ländern sind bei uns zu Gast. Sie wohnen in unseren Gästewagen und erfreuen Touristen am Ku'damm mit ihrer Musik. Dies ist ein Teil des Flairs, das Berlin ausmacht.
O nein, Herr Landowski, wir beeinträchtigen nicht den Stolz der Berliner auf ihre Stadt – dies tun eher Politiker Ihres Schlages. Den „Bürger“ interessieren Wagenburgen auch nicht so sehr – er hat genug mit den täglichen Auswirkungen ihrer schlechten Sozial- und Finanzpolitik zu tun. Wagenburgler Zosch,
Name ist der Redaktion bekannt
Mit Datum vom 20. August berichten die Medien über den Beschluß des CDU-Landesausschusses zum Thema Wagenburgen: „Weder im innerstädtischen Bereich noch an der Landesgrenze könne es Bestandsgarantien für Obdachlose oder auch andere Bürger auf Kosten der Steuerzahler geben.“
Hervorragend! Der Obdachlosigkeit soll also endlich ein Ende gesetzt werden. Die CDU weiß es: Diese „Bestandsgarantien auf Kosten der Steuerzahler“ hielten die Leute auf der Straße fest! Ja, sie würden gerade dazu einladen, den Weg in die Obdachlosigkeit zu wählen, offenbar sei dies der einfachste Weg, sich auf der sozialen Hängematte auszuruhen.
Angesichts der leeren Kassen und der angespannten Haushaltslage können wir uns natürlich einen solchen Luxus nicht mehr leisten! Richtig erkannt: Obdachlose sind „Sozialschmarotzer“, sie leisten keinen produktiven Beitrag zur Gesellschaft.
Nach der Abschaffung der staatlichen Subventionen für ein soziales Problem („Bestandsgarantien auf Kosten der Steuerzahler“) ist der Weg nunmehr frei für die „Endlösung“ des Obdachlosenproblems. Die ordentlichen Obdachlosen werden sich dann umgucken müssen nach Wohnungen und Arbeit (wir wissen ja: wer wirklich eine Arbeit bzw. eine Wohnung sucht, der findet auch eine!), und alles andere soziale Gelumpe sollte und wird schnellstmöglich die Stadt verlassen, getreu dem Motto der Bremer Stadtmusikanten: Etwas Besseres als den Tod finden wir allemal!
Die damit eingesparten Kosten in Millionenhöhe lassen sich trefflich nutzen, um den „Standort Berlin“ zu sichern, und die stinkenden Penner, die uns auf der Tasche liegen, sind wir gleich mit los! So einfach ist das!
Es ist dann nur noch ein kleiner Schritt, Obdachlosigkeit – oder, besser gleich ganz allgemein, „Armut“ – unter Strafe zu stellen (gegenwärtig ist Obdachlosigkeit lediglich eine Ordnungswidrigkeit!) und die entsprechenden Subjekte in Arbeitslager zu verfrachten oder vielleicht noch besser umstandslos auszuweisen, dorthin, wo der Pfeffer wächst. Ein „anständiger Deutscher“, und dies ist die letzte Konsequenz des CDU-Beschlusses, ist nicht obdachlos! [...] Stefan Schneider
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