: Nur keine radikalen Brüche
Seit knapp zwei Monaten regiert die islamistische Refah-Partei in der Türkei. Vom Gottesstaat bleibt das Land weit entfernt. Eine Zwischenbilanz ■ Von Ömer Erzeren
Es sind noch keine zwei Monate vergangen, seit Necmettin Erbakan, der Vorsitzende der islamistischen „Wohlfahrtspartei“ als Ministerpräsident die Koalitionsregierung mit der rechtskonservativen „Partei des rechten Weges“ unter Tansu Çiller gebildet hat. Aber schon in dieser kurzen Frist hat Erbakan Punkte sammeln können. Glaubt man den Ergebnissen von Meinungsforschungsinstituten, die den Islamisten durchaus nicht freundlich gesonnen sind, könnte die Wohlfahrtspartei noch wesentlich mehr Stimmen erhalten, wenn jetzt Wahlen stattfänden.
Und letztendlich ist es Erbakan, der darüber entscheidet, ob mittelfristig vorgezogene Wahlen angesetzt werden oder die Koalitionsregierung die gesamte Legislaturperiode im Amt bleibt. Erbakans Koalitionspartnerin, Außenministerin Tansu Çiller, hat sich bereits bei Bildung der Koalition an Erbakan ausgeliefert. Die Abschlußberichte der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse im Zusammenhang mit Korruptions- und Schmiergeldaffären, die dazu führen können, daß der Exministerpräsidentin der Prozeß vor dem Verfassungsgericht gemacht wird, hängen ganz vom Wohlwollen der Islamisten ab. Erbakan kann Çiller jederzeit loswerden, während Çiller auf Erbakan angewiesen ist.
Unscheinbare Tansu Çiller – Erbakan zieht die Fäden
Dementsprechend gestaltet sich die Praxis der neuen Regierung. Die Präsenz von Tansu Çiller und ihrer „Partei des rechten Weges“ in der Koalition wird von der türkischen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Selbst der Außenpolitik, ein Schlüsselbereich türkischer Politik und außerdem in Tansu Çillers Zuständigkeitsbereich als Außenministerin, drückt Erbakan seinen Stempel auf.
Die erste große Demonstration war die zehntägige Reise Erbakans in den Iran und in fernöstliche Staaten. Der Abschluß eines Handelsvertrages mit dem Iran über 20 Milliarden US-Dollar war eine kalte Dusche für die USA, die gerade ihr Embargogesetz gegen den Iran verabschiedet hatten. Iranische Blätter feierten den Vertrag über den Bau einer Pipeline und die Lieferung von iranischem Erdgas in die Türkei als Durchlöcherung des US-Embargos. Der Vertrag bedeutet das bislang größte Erdgasgeschäft in der Geschichte des Iran. Bei den Spitzengesprächen, die Ministerpräsident Erbakan in Teheran führte, war kein Diplomat des Außenministeriums zugegen – eine offene Brüskierung Çillers. Die Außenministerin ließ es geschehen.
Doch nicht ideologische Verbrüderung mit der „islamischen Republik Iran“ war der Grund dafür, daß die Ergebnisse des Staatsbesuchs im Iran in der türkischen Öffentlichkeit positiv registriert wurden. Die Türkei hat Energiedefizite. Mehrstündige Stromausfälle sind gang und gäbe. Angesichts solcher Verhältnisse läßt sich kaum einem Türken erklären, warum kein Erdgasvertrag mit dem Iran abgeschlossen werden darf, nur weil die USA den Iran als „terroristischen“ Staat klassifizieren.
Erbakan bastelt als Ministerpräsident an einem Selbstimage als Politiker, der „türkische Interessen“ wahrnimmt. Einst hat Erbakan als Oppositionspolitiker die Regierenden als „Knechte des Westens“ beschimpft. Nun ist Rollenwechsel angesagt. Gute Beziehungen zu den islamischen Nachbarstaaten, dem Iran, dem Irak und Syrien stehen auf der Tagesordnung. Zwei seiner Minister schickte Erbakan nach Bagdad, um auch dort ein Abkommen über die Lieferung von Erdgas zu verhandeln.
Vision vom Nahen Osten ohne westliche Dominanz
Zuweilen läßt Erbakan seinen Träumen freien Lauf. Die Türkei, Syrien, der Iran und Irak sollten in einem Vierergipfel über die Zukunft des kurdischen Nordirak entscheiden, teilte Erbakan mit. Die Vision eines Nahen Ostens, wo die Dominanz des Westens, insbesondere der USA gebrochen ist. Erst später merkte Erbakan, daß er sich damit zu weit vorgewagt hatte. Er ließ dementieren.
Denn die neuen Bande im Osten sollen nicht dazu führen, daß die Türkei im Westen isoliert wird. Erbakan muß bei der Neuorientierung der Außenpolitik einen ständigen Seiltanz vollbringen. Immer wieder wird gegenüber den USA und der EU betont, daß mit der Verbesserung der Beziehungen zu den Nachbarländern kein radikaler Wandel der Außenpolitik verbunden ist.
Die Zollunion mit der EU, der die Islamisten feindlich gegenüberstanden, ist mittlerweile in der Türkei kein Konfliktpunkt mehr. Im Gegenteil. Erbakan nutzt die Mitgliedschaft der Türkei in der Zollunion, um islamischen Ländern gegenüber klarzustellen, welche Bedeutung der Türkei als Handelspartner zukomme. Erbakan war es auch, der nach massivem US-amerikanischem Druck der weiteren Stationierung von US-Truppen in der Türkei zum Schutz der irakischen Kurden vor dem Bagdad- Regime zustimmte. Mit den Stimmen der Wohlfahrtspartei wurde der Stationierungsvertrag im türkischen Parlament verlängert. Auch das Militärabkommen mit Israel wird nicht in Frage gestellt. Die Verärgerung der Iraner über die türkisch-israelische Militär-Zusammenarbeit wies Erbakan in Teheran zurück: „Für uns ist die beste Technologie von Bedeutung. Hätten in die Iraner sie, hätten wir bei ihnen gekauft.“
Nicht nur in der Außenpolitik, sondern auch in der Innenpolitik vermeidet Erbakan radikale Brüche. Vorsichtig versucht er, eine Neubestimmung vorzunehmen. Konfliktvermeidung mit dem Militär gehört dazu. Das höchste Verwaltungsgremium des Militärs wollte die Entlassung von 13 Offizieren, denen illegale radikalislamistische Aktivitäten vorgeworfen wurden, in die Wege leiten. Monatelang hatten Wohlfahrtspartei und islamistische Presse protestiert, die Offiziere würden nur deshalb entlassen, weil sie gläubige Moslems seien. Jetzt stimmte Erbakan den Entlassungen zu, ohne mit der Wimper zu zucken.
Auch die Grenzen, die das Regime in dem tabuisierten kurdischen Konflikt setzt, sind Erbakan wohl bewußt. So setzte auch Erbakan die Rhetorik seiner Vorgänger fort und spricht immer wieder vom „heldenhaften Kampf der Armee gegen die Terroristen“. Doch gleichzeitig signalisierten die Gespräche des Ministerpräsidenten mit dem Intellektuellen Ismail Nacar, der Kontakte zu PKK-Chef Abdullah Öcalan unterhält und sich als Mittler für eine friedliche Lösung des Kurdenkonfliktes begreift, daß die Islamisten sich das Tor zu einer Veränderung der Kurdistanpolitik offenhalten. Die Regierung vermeidet jeden harten Schritt, der als Islamisierung des öffentlichen Lebens ausgelegt werden könnte. Schleichend werden Beamtenposten mit Parteigängern besetzt, ohne daß ein Wandel in der Politik erkennbar wäre.
Der „gerechte Islam“ verkauft den Staatsbesitz
In der Regierung hat sich Erbakans Vision von der „gerechten Ordnung des Islam“ ohne die „teuflischen“ Zinsen ausgeträumt. Erbakan weiß, daß die Türkei fester Bestandteil des kapitalistischen Weltmarktes ist und daß jeder Versuch des Ausbruchs Strafe zur Folge hat. Als Oppositionspartei waren die Islamisten erbitterte Gegner der Privatisierung des öffentlichen Sektors. Als „Vaterlandsverräter“ wurden Politiker beschimpft, die die Privatisierung der türkischen Telekom anstrebten. Es ist ein Streich der Geschichte, daß Erbakan als Ministerpräsident das Privatisierungsgesetz der Telekom durchs Parlament brachte. Um den defizitären Staatshaushalt zu sanieren, hat Erbakan ein wirtschaftspolitisches Reformpaket angekündigt. Falls das realisiert wird, würde Erbakan die liberale Wirtschaftspolitik seiner Vorgänger weit in den Schatten stellen. Nicht nur der Verkauf öffentlicher Betriebe steht an, auch 100.000 staatliche Dienstwohnungen sollen verkauft werden, ebenso wie Feriensiedlungen, Baugrundstücke und Wälder. 3,5 Milliarden US-Dollar erhoffen sich die Wirtschaftsexperten der Regierung. Nicht islamistische Ideologen, sondern kapitalistische Parteimanager formulieren die Wirtschaftspolitik.
Der Oppositionspolitiker Korkut Özal, der Bruder des verstorbenen türkischen Politikers Turgut Özal, meint, daß Erbakan an die Politik Özals in den achtziger Jahren anknüpfen könne. Eine Reformpolitik in der Ökonomie, die Integration der Wohlfahrtspartei ins politische System, Abkehr von Extremismus und Zuwendung zum Zentrum gehörten dazu. Erbakan setze Signale in diese Richtung. Auch in der Wirtschaftspolitik beginne die Wohlfahrtspartei Realitäten anzuerkennen. Diese Politik – so Özal – könne ein Erfolgsrezept darstellen: „Dann hält die Koalition auch vier Jahre.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen