: Trauermantel im Wind
Invasion der Tag- und Nachtfalter ■ Von Katrin Seibold
Wem in dieser Jahreszeit schon dutzendweise Nachtfalter in die Kerze sturzgeflogen sind, weiß, daß heuer ein falterreicher Sommer ist.
Einer von den Selbstmordkandidaten ist die Gammaeule. Sie ist ein Wanderfalter aus der Familie der Eulenfalter und lebt winters am Mittelmeer. Im Mai kommt sie über die Alpen und legt auch in Norddeutschland ihre Eier ab. Aus den Raupen entstehen innerhalb eines Sommers zwei bis drei Generationen neuer Falter. Und im Herbst kehrt die jüngste Generation zurück zur Wiege der Großeltern. Denn der genaue Rückweg wird den Schmetterlingen in die Flügel gelegt. Aber was wollen sie alle hier?
„Raupeninvasion“ lautete die Nachricht, die vor sechs Wochen bei dem Schmetterlingsbeauftragten der Hamburger Umweltbehörde, Rudolf Stübinger, einflatterte. Unzählige Raupen bevölkerten ein Gelände bei Schwarzenbek, auf dem ein Golfplatz gebaut werden sollte. Stübinger fuhr sofort hin, denn die Tiere hatten schon alles abgegrast, wanderten bereits in Scharen über die angrenzenden Straßen. „Ich habe sie gleich als Gammaeulen-Raupen identifiziert. Meine Hochrechnung ergab: Es waren rund 600.000.“
Gründe für ein solch großes Aufgebot jedoch fliegen selbst Experten nicht ohne weiteres zu. Möglich sei, daß durch den langen, strengen Winter wenig natürliche Feinde der Raupen überlebt hätten, erklärt Stübinger.
Wer nachts häufig angeflogen und dabei im Schlaf gestört wird, kann nur mit einem Gitter vor dem Fenster abhelfen. „Duftkerzen sind meistens Geldschneiderei“, sagt Stübinger. Und mit Licht könne man auch nicht arbeiten. Normalerweise würden die Nachtschwärmer nämlich von blauwelligem Licht angezogen. „Ist dies aber nicht vorhanden, reagieren sie auch auf rotwelliges, also gelbes.“
Neben der Gammaeule haben dieses Jahr auch ungewöhnlich viele Weißlinge und Distelfalter Kurs auf Hamburg genommen. Auch zwei Perlen der Schmetterlingswelt, die lange verdrängt waren, könne man wieder vermehrt in Hamburg bewundern: Der Reseda-Weißling aus Süddeutschland und der Trauermantel aus dem Osten sind von den beiden vergangenen heißen Sommern in den Norden zurückgelockt worden, nachdem sie sich vorübergehend in andere Himmelsrichtungen verzogen hatten.
Bei ihren Reisen beweisen die Tiere erstaunliche Widerstandsfähigkeit: Der sogenannte „Jetstream“, ein starker und schneller Wind, transportiere Schwärme der Flatterer in rasender Geschwindigkeit, erzählt Stübinger. „In 8. 000 bis 12.000 Metern Höhe wurden kleine Falter aus der Sahara bis weit in den Norden getragen. Sogar bis nach Island.“
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