: Die Palmen in der Krise
Vier verschollene Feuilletons aus den frühen dreißiger Jahren: über die exotische Gestaltung der Vergnügungslokale, die Berliner Gereiztheit, das Schicksal bürgerlicher Möbel in der Rezession und das Hellsehen ■ Von Siegfried Kracauer
Unter Palmen
Die Palme ist ein Hauptbestandteil jener Fata Morgana, die heute immer wieder am Horizont der Berliner Alltagswüste aufsteigt. Auch in den kleineren Lokalen aller Stadtteile sind diese südlichen Gewächse jetzt Mode geworden. Es gibt zahllose Menschen, die mit einem harten Leben gestraft sind und darum wenigstens ungestraft unter Palmen wandeln wollen. Weitaus in den meisten Fällen dienen sie als ein Zeichen in der Ferne. Da das Schlechte so nahe liegt, wird das Gute in exotischen Gegenden gesucht, dort, wo die Kokosnüsse gedeihen, die Menschenfresser friedlich beisammen wohnen und niemand etwas von Arbeitslosigkeit weiß oder von Nationalsozialisten. Das Wachstum der Palmen ist, wenn man will, dem des Elends direkt proportional.
Ich entsinne mich noch der Eröffnung eines neuen Caféhauses im Berliner Westen: das Lokal war vom ersten Tag an überfüllt. Aus guten Gründen; ist es doch eine kleine Oase. Gemalte Palmenhaine erfüllen zartgrün die Wände, leibhafte Bambusstämme und Bambusrohre ragen mitten im Raum empor, und echte Palmenbüschel stecken auf den Baumrinden, die alle Ecken dekorieren. Die Illusion der Fremde, deren Sinnbild die Palme hier ist, wird durch einen besonderen Trick noch erhöht. Man weilt nämlich nicht schon in der Exotik, sondern kommt erst in ihr an. Mit voller Absicht sind die Haupträume als Schiffsverdecke ausgebildet worden. Dadurch gleichen die Gäste Reisenden, die wie auf den Plakaten der Schiffahrtsgesellschaften aus der grauen Heimat dem Sonnengestade entgegenfahren. Sie liegen in bequemen Deckstühlen und erwarten die Ankunft der gepinselten Neger, die sich gerade in einem Boot dem Vergnügungsdampfer nähern. Sie haben Zelttücher über sich, die den Eindruck tropischer Hitze erwecken und zugleich vor der imaginären Hitze bewahren. Und während sie ihren Mokka trinken, ist es durchaus so, als vermische sich ihnen der Genuß am Aufenthalt in jenen Kindertraumlandschaften, von denen die Briefmarken künden, mit dem Gefühl der Abgelöstheit, das der Aufbruch zur Utopie vielleicht in ihnen hervorruft. Beinahe scheinen sie angelangt. Sanfte Grammophonklänge dringen bereits an ihr Ohr, und über ihren Häuptern schaukeln die zartgrünen Palmen an der Wand. Das Publikum, das sich in diese unwirklichen Kontinente flüchtet, besteht hauptsächlich aus jungen Leuten: Künstlern und Literaten oder solchen, die es sein wollen, und kaufmännischen Pärchen, die einen Sinn fürs angeblich Höhere haben.
Die Luft, in der sie hier atmen, ist dick und schwül. Aber die Schwüle rührt nicht allein vom tropischen Klima her, das die Palmengemälde ausstrahlen, sondern wird auch von den Besuchern selber erzeugt. Unter ihnen sind zweifellos viele, die den blauen Himmel über den Zelten mit dem blauen Dunst verwechseln, den sie sich vormachen; die sich schon darum besser dünken als die andern, weil sie in den Lehnstühlen auf dem Schiffsverdeck liegen; die sich das hinphantasierte Märcheneiland nur vorgaukeln lassen, um der eigenen Leere nicht inne zu werden. Sie halten den Dampf der Gespräche für Glut, die Fata Morgana für ein Asyl. Manchmal schwillt ihr Gemurmel an und wogt häuserhoch durch die Räume. Dann verblassen die Palmenwälder und treten in die Wände zurück, die Neger fletschen ihre Zähne, und das ganze Schiff strandet an einem Korallenriff.
So sind fast alle Palmenlokale. Eine Ausnahme bildet eigentlich nur das eine, das im Zentrum Berlins liegt, zwischen Stadtbahnzügen und weltstädtischem Straßenverkehr. Tritt man hinein, so ist man in einem Wohnraum, der sich zur wunderbaren Innenwelt weitet. Hier sind die Palmen nicht etwa ein Abglanz der Ferne, eine Luftspiegelung, deren Anblick über das schlimme Zuhause hinwegtrösten soll, sondern richtige Zimmerpflanzen, die ein Zuhause schmücken, das trotz des Elends weiterbesteht. Sie haben in hohen, dünnen Holzpfeilern Wurzeln geschlagen und beherrschen das Reich der oberen Stubenhälfte. In ihren grünen Wedeln gibt es viel zu entdecken. Affen und Schlangen treiben sich darin um, und manchmal leuchten aus dem Blätterdickicht rote Orangenschalen hervor. Eine beschwingte Urwaldvegetation, die von dem Rauschen vieler Springbrünnchen widerklingt, deren Farbenspiele sich in einem Gefunkel verlieren. Im grenzenlosen Gefunkel des gewellten Blechs, mit dem sämtliche Wandfüllungen bekleidet sind, um sie vergessen zu machen. Unterhalb dieses Stubenhöhenrauschs ist der Raum in lauter kleine Kojen aufgeteilt, in denen sich Liebende genau so einnisten können wie die Schlangen und Affen in den Palmen. Der ganze Raum ist in Wirklichkeit eine einzige Koje. Man flieht nicht in sie, man zieht sich in sie zurück. Und statt immer weiter nach fremden Gegenden abgetrieben zu werden, dringt man nur immer tiefer ins Bekannte hinein, das dann zu funkeln anhebt wie das Blech an den Wänden.
Angestellte, Kaufleute, Studenten besuchen dieses Lokal. Sie retten sich hier keineswegs aus dem Alltag in die Enge der guten Stube, sie entdecken höchstens, was sie besitzen, und entfalten Fähigkeiten, an die sie nicht dachten. Die Palme ist ihnen ein Wegweiser zum Glück. Mit geröteten Wangen tanzen sie und halten sich in den Kojen zärtlich umschlungen. Das gedämpfte Licht tilgt die Ärmlichkeit der Jacken und Blusen. Es wechselt vom Rot zum Grün herüber, und so leicht strömen auch die Empfindungen der tanzenden Paare dahin. Und wie im Paradis bleu in Paris umschwebt sie jene Traurigkeit, die den Glücklichen gilt.
(19. 10. 1930, 2. Morgenblatt;
Reiseblatt, S. 5)
Unter der Oberfläche
Ein ausländischer Besucher Berlins, der weit in der Welt herumgekommen ist, sagte mir jüngst, daß man hier an der Oberfläche die Not kaum bemerke. Er war darüber um so erstaunter, als er von ihrem Vorhandensein wußte. Das gutgekleidete Straßenpublikum, die Wochenendmode, der Betrieb in den Lokalen – all diese Zeichen eines scheinbar gehobenen Lebensstandards verwirrten ihn, da sie nach seiner Meinung das Faktum des Elends zwar nicht Lügen straften, aber ihm doch rätselhaft widersprachen. Ich machte ihn unter anderem auf die Bettler aufmerksam, die jetzt in immer größerer Zahl gerade den Westen bevölkern. Seine Antwort lautete, daß es in London etwa viel mehr Bettler gäbe als hier in Berlin. „Vielleicht“, so reflektierte er, „ist bei euch die Not nicht einmal schlimmer als anderswo. Nur seid ihr von ihr auch seelisch völlig besessen.“
Solche Urteile werden von Fremden öfters geäußert. Um sie richtigzustellen, genügte beinahe schon der Hinweis auf die tägliche Lokalrubrik. Ich greife aufs Geratewohl die Meldung eines hiesigen Blattes heraus, nach der in der Zeit vom Sonntag bis zum Montag mittag nicht weniger als sieben Personen Selbstmord verübt haben:
Ein blutjunges Liebesehepaar, dessen Vereinigung durch seine Mittellosigkeit verhindert wurde;
ein Polizeibeamter wegen Familienstreitigkeiten und Überschuldung;
ein zugereister Rentmeister;
eine ältere Frau, die angesichts ihrer wirtschaftlichen Zerrüttung die Nerven verlor;
noch eine alte Frau, die nach dem Tod ihres Mannes vergeblich Arbeit suchte;
ein Stallschweizer, der arbeits- und wohnungslos war.
Dem ist nichts weiter hinzuzufügen; es sei denn die Betrachtung, daß die Verschiedenheit der gewählten Todesarten mit der Gleichförmigkeit des Selbstmordmotivs merkwürdig kontrastiert.
Aber auch innerhalb seines eigenen Beobachtungsfeldes wäre jener Ausländer leicht zu widerlegen. Ich will gar nicht von den vielen Merkmalen der Not reden, die mindestens so sichtbar sind wie der spärlich aufsitzende Glanz – also zum Beispiel von den Schwierigkeiten der Vergnügungsindustrie oder von der ungeheuren Menge leerstehender Großwohnungen –, sondern lieber einige unauffälligere Symptome des wirklichen Zustands verzeichnen. Zu ihnen gehört die Aufgeregtheit im Alltag. Mag selbst die gute Kleidung in gewissen Stadtteilen vorherrschen,
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das Gebaren der Menschen stimmt nicht recht mit ihr überein. Nicht so, als ob sie der Höflichkeit ermangelten, aber sie sind von einer Nervosität, die bei dem geringsten Anlaß ausbricht. Wer jetzt an den heißen Sommerabenden über den Kurfürstendamm promeniert, spürt deutlich, daß diese Menschen von Unruhe verzehrt sind und rasch aus der Haut fahren könnten. Sie stoßen sich, wenn sie aneinander vorbeigehen, sie sprechen etwas lauter, als es vielleicht üblich ist, und erwecken überhaupt den Eindruck von Reibungsflächen, die sich im nächsten Augenblick entzünden. Oft erfolgt auch wirklich eine Explosion. Ein Auto hat eine Straßenbahn gestreift, oder an irgendeiner Ecke bildet sich ein Menschenknäuel, aus dessen Mitte Schupohelme herausleuchten. Ich weiß, daß ich mich ganz ungenau ausdrücke, aber es kommt mir nur darauf an, die gereizte Stimmung anzudeuten, die hier fast körperlich fühlbar ist. Man müßte, um sie im einzelnen darzustellen, Tausende winzige Vorfälle schildern und dann aus ihnen die Summe ziehen. Zu notieren wäre: die rücksichtslose Raserei der Autos nach dem Aufblenden des grünen Signals; Streitszenen in Restaurants, stumme kurze Blickschlachten zwischen Passanten, die sich nicht kennen und doch abtaxieren wie Waren; Gesprächsfetzen, Schaffnerauskünfte und manche Gebärden. Das aus diesen Zügen zusammengesetzte Mosaik verriete, wie geplagt und geschunden heute die Menschen aller Schichten bei uns sind.
Man sollte meinen, daß ihnen Sport und Wochenende eine Erneuerung der Kräfte brächten. Aber ich habe schon wiederholt die Erfahrung gemacht, daß eher das Gegenteil richtig ist. Um es kraß auszudrücken: die Art und Weise, in der sich die Massen gegenwärtig ins Wochenende stürzen, ist selber ein Kennzeichen der durch die allgemeine Not erzeugten Hysterie. Sie geben sich der Natur nicht hin, sondern überrennen sie gleichsam; tragen ihren Krampf in den Sport hinein, statt sich von ihm lösen zu lassen; vergötzen die Nacktheit, die doch nur der Gesundung dienen sollte, und erheben die braune Hautfarbe zum Idol. Wäre es anders, man müßte den Menschen auch im gewöhnlichen Großstadtleben anmerken, daß sie sich körperlich ertüchtigt und draußen wirklich erholt haben. Dem besseren Aussehen, das sie durch die bewußte Körperkultur erlangen, entspricht indessen keineswegs eine größere Gemessenheit, eine ruhigere Haltung. Wenn mich nicht alles täuscht, hat sich sogar ihre Empfindlichket nicht unerheblich gesteigert. Immer wieder kann man an schwülen Tagen beobachten, daß gerade junge, ersichtlich sportgeübte Menschen sich ihrer Jacke entledigen, um die Beschwerden der Hitze zu verringern, während ältere Herren im Vollbesitz ihrer Kleidung dahinwandeln, ohne unter der kleinen Schwitzkur besonders zu leiden. Das Wochenende scheint also einstweilen die Widerstandskraft nicht eben zu erhöhen. Es hat gewiß gleich dem Sport die Funktion, den Folgen der Not entgegenzuwirken, wird aber noch in Formen genossen, die selber ein Produkt der Not sind.
Ich möchte damit nur gesagt haben, daß diese Not trotz der Luxuskarosserien und der Glanzperspektiven, die sich den Fremden so schnell eröffnen, durchaus nicht unsichtbar ist. Ihre Signale ragen vielmehr wie die Masten gesunkener Schiffe über die spiegelglatte Oberfläche hinaus. (11. 7. 1931, Abendblatt, S. 1)
Möbel auf Reisen
Am heutigen Tag hat in Berlin eine wahre Völkerwanderung der Möbel eingesetzt, es ist, als führen sie ins Weekend hinaus. Vor allem in den Großwohnungen des Westens und in den Grunewaldvillen hat sie die Unruhe gepackt. Dort standen sie lange Jahre so sicher, als seien sie mit den Zimmerfluchten und Dielen verwachsen und rührten sich nicht. Jetzt aber sind sie, durch die Krise aufgescheucht, zu richtigen Wandermöbeln geworden, in denen allerdings nicht der Frühling juckt, sondern der Herbst.
Zur Bewältigung ihres Ansturms hat man wie in den Tagen der Mobilmachung sämtliche Verkehrswerkzeuge requiriert, die es nur irgend gibt. Ich schweige von den großen Möbelwagen, die gestern abend schon leer und düster in vielen Straßen standen und das Signal des Aufbruchs erwarteten. Sie sind zwar geräumig, aber sie reichen für die zehntausend Einrichtungen nicht aus, die mit einem Schlag ihre heimische Scholle verlassen. So ist denn die ganze rollende Reserve angerückt, die Ersatzarmee auf Rädern, die noch die ältesten Jahrgänge von Lieferwagen, Kohlenfuhrwerken und Gemüsekarren umfaßt.
Geduldig harren sie vor den offenen Haustüren und lassen sich übermäßig beladen. Stück für Stück wird der Hausrat herausgeschleppt, ein Prozeß der Ablösung, der äußerst schmerzlich sein muß. Da hat das Büfett seit unvordenklicher Zeit neben dem Diwan gestanden und findet sich nun auf einmal mutterseelenallein in einer ungewohnten Umgebung. Schutzlos dem Tageslicht preisgegeben, gerät es in die gemischte Gesellschaft der Küchenschränke und Betten, die es kaum von Ansehen her kennt. Kräftige Seile umschnüren die ausgehobene Herrlichkeit, und dann bewegen sich die Vehikel, von pensionierten Schlachtrössern gezogen, ächzend der ungewissen Zukunft entgegen. Hinter ihnen aber wehen in verlassenen Zimmern, die vielleicht nie wieder bewohnt werden, Tapetenfetzen wie Trauerfahnen von den Wänden herab.
Nach stundenlanger Fahrt treffen die Möbel endlich am Ziel der Wanderung ein. Weit draußen in einer Vorortstraße bleibt ihr Beförderungsmittel mit einem Ruck stehen, und da nichts weiter erfolgt, kampieren sie einstweilen im Freien. Sie warten, und während des Wartens angesichts der neuen Behausung enthüllen sich alle ihre Gebrechen. Das sind keine Möbel mehr, das ist altes Sack und Pack. Gedrechselte Säulchen schrauben sich sinnlos in die Höhe, Klaviere, deren Politur abgeschabt ist, verlieren durch die Konfrontation mit den kahlen Hausfassaden den letzten inneren Halt, und die Fruchtkränze am Nachtkästchen, die holdselig sein sollen, lächeln blöd und verwirrt. Leerer Schmuck einer endgültig abgelaufenen Zeit: hier, an der Schwelle seines kommenden Bestimmungsortes, wird er ohne Erbarmen entzaubert.
Ob die Stuhlbeine, die Platten, die Füllungen und Säulchen je wieder zu richtigen Möbeln gedeihen? Sie ziehen in Zimmer ein, die kleiner sind als die preisgegebenen, und gleich über ihnen beginnt schon die Decke.
Ich fürchte, daß sie fortan mit den Quadratzentimetern genau so rechnen müssen wie ihre Besitzer mit den Pfennigen und die Zeit des Glanzes unwiderruflich für sie dahin ist.
(3. 10. 1931, Abendblatt/
1. Morgenblatt, S. 2)
Der Hellseher im Varieté
In der Scala, deren Programm unter anderem auch die glänzende equilibristische Nummer des Trios Willy Schenk & Co. enthält, zeigt jetzt der Hellseher Erik Jan Hanussen allabendlich seine Kunst. Er hat vor dem Avus-Rennen dem Fürsten Lobkowicz geraten, vorsichtig zu fahren, und tatsächlich ist Fürst Lobkowicz beim Rennen tödlich verunglückt. Die übrigen aufs Rennen bezüglichen Voraussagen sollen allerdings sämtlich unrichtig gewesen sein. Sehr zuverlässig ist die Wirklichkeit einstweilen noch nicht.
Ehe Hanussen gleichsam im Allerheiligsten das Hellsehen zelebriert, treibt er sich erst eine Zeitlang in den Vorhöfen herum. Er veranstaltet ein paar telepathische Experimente, wie man sie früher schon häufig sah, plaudert über Graphologie usw. Ohne daß ich die magischen Kräfte anzuzweifeln wagte, über die er auf Schritt und Tritt gebietet, muß ich gestehen, daß mir seine profane Fähigkeit, das Publikum in Stimmung zu bringen, nicht minder bewundernswert erscheint.
Bald reißt er es gewaltsam empor, indem er für die einzigartigen Versuche, die er hier vorführt, einen stärkeren Beifall verlangt, bald gönnt er ihm kurze Erholungspausen, damit es nicht außer Atem gerät. Geheimnisvolles Mienenspiel und Scherze mit der Damenwelt, Ausbrüche jenseitiger Zuversicht und rein irdische Plänkeleien: das vermischt sich ohne Schwierigkeit und geht in einem fort ineinander über. Bis zuletzt die Zuschauer so durchgerüttelt sind, daß sie reif werden für das eigentliche Mysterium.
Es besteht, kurz gesagt, in folgendem: Herr Hanussen sitzt auf einem Stuhl in der Mitte des Podiums, hat eine schwarze Binde um die Augen gebunden, die offenbar den Zustand äußerster Konzentration bewirken soll, und teilt in diesem Zustand einigen Leuten im Saal mit, was ihnen an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt widerfahren ist. Hinzuzufügen wäre noch, daß seinen Auskünften lächerlich winzige Angaben zugrunde liegen. Die betreffenden Leute haben ihm nämlich in der vorangegangenen Pause einen Zettel in die Hand gedrückt, der außer ihrem Namen nichts weiter als die zur Lokalisierung des jeweiligen Ereignisses nötigen Daten enthielt. Und trotz dieser minimalen Anhaltspunkte klärt der hinter seiner Binde hellsehende Herr Hanussen die Fragesteller vollständig über ihre Vergangenheit auf. Sie bestätigen durchweg die Richtigkeit der ihnen gemachten Eröffnungen und scheinen so erstaunt wie glücklich zu sein, daß sie auf eine derart rätselhafte Weise nochmals erfahren, was sie schon wußten. (Daß sie auch über die Zukunft jeden wünschenswerten Aufschluß erhalten können, beweist ein Blick in Hanussens Wochenschau, in der er der Öffentlichkeit und zahlreichen Privatkunden schlankweg die kommenden Dinge enthüllt.)
Wie immer es mit den Gaben dieses Hellsehers bestellt sei, der Drang des Publikums, sie zu nutznießen, ist nicht zu bestreiten. Ich habe noch selten ein so gespanntes Publikum gesehen. Es steht in langer Reihe vor der Kabüse, in der die Zettel abzuliefern sind, es blickt so starr auf die kleine schwarze Binde, als sei sie das verschlossene Tor des Paradieses, es lauscht hörbar, während sich Hanussen unhörbar konzentriert, und beginnt nach dem Eintreffen der Antworten wollüstig zu rumoren. Eine schwüle Erregung, die unwiderleglich anzeigt, wie sehr durch die Krise die Erwartung des Wunders gesteigert worden ist. Als ob sich die Krise durch ein Wunder überwinden lasse! Aber seiner im Halbdunkel zu harren, dünkt vielen bequemer als die planmäßige Verbesserung der Zustände, die das einzige rechtmäßige Wunder wäre. (28. 5. 1932, Abendblatt/
1. Morgenblatt, S. 3)
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