■ Am 24. August 1936 ließ Stalin alte Bolschewisten hinrichten. Bloch und Feuchtwanger applaudierten. Warum?
: Der Traum vom deutschen Stalin

Heute vor sechzig Jahren forderte der Chefankläger der UdSSR, Wyschinski Sinowjew, Kamenew und ein Dutzend weitere Kommunisten wie „tollgewordene Hunde“ zu erschießen. Dieser erste Moskauer Schauprozeß war der Auftakt der Vernichtung der alten Bolschewisten. 1939 hatte der stalinistische Terror nicht nur fast alle Revolutionäre von 1917 aus dem Weg geräumt, sondern auch die Rote Armee ihrer fähigsten Generäle beraubt.

Der Prozeß dauerte eine Woche. Verteidiger waren nicht zugelassen, das Urteil fußte einzig und allein auf den Selbstbezichtigungen der Opfer, die die abstrusesten Taten gestanden. Manche forderten ihre eigene Hinrichtung, andere gestanden konspirative Treffen, die, peinlich für die Stalinsche Staatsanwaltschaft, in einem Hotel in Kopenhagen stattgefunden haben sollten, das 1917 abgerissen worden war. Wer wollte, konnte sehen, was geschah. Das Verfahren war nach dem Muster von „Hexenprozessen“ (F. Adler, 1936) gestrickt, in denen ein Feind konstruiert wurde, der alle gesellschaftlichen Mängel erklären sollte. Schuld war der „Trotzkist“. Und Trotzkist konnte jeder sein. Die Produktion von Volksfeinden war die einzige Erklärung, warum der große Plan zur Neubildung einer effektiven Gesellschaft scheiterte. Weil sich das realsozialistische Planungssystem nicht selbst als Fehler erkennen konnte (das gelang erst Gorbatschow), mußte es den Defekt anderswo orten. Das war der rationale Kern des scheinbar planlosen Terrors, den das stalinistische System in den späten 30ern gegen die eigene Partei führte.

Lion Feuchtwanger reiste fünf Monate nach dem ersten Prozeß nach Moskau. Den zweiten Schauprozeß gegen Radek und Pjatakow beschrieb er in seinem Text „Moskau 1937“ als zivile „Debatte“, in der Angeklagte und Richter rechtschaffen die Wahrheit suchen. Von Folter und Despotie zu reden, sei „Geschwätz“ orientierungsloser westlicher Intellektueller. Stalin erschien Feuchtwanger als eine Ikone der Vernunft, als „gescheiter, überlegener Mann“ und „wärmendes dauerndes Feuer“. Auch der Sinn der Prozesse war glasklar: Um im Krieg gegen Hitler zu bestehen, müsse Stalin die Opposition beseitigen. Feuchtwanger schloß mit einem biblischen Glaubensbekenntnis: „Es tut wohl, nach all der Halbheit des Westens ein solches Werk zu sehen, zu dem man von Herzen ja, ja, ja sagen kann.“

Woher diese Verblendung? Ein Purgatorium, in dem der westliche Intellektuelle Feuchtwanger soliden Selbsthaß auslebte? Sehnsucht nach dem Weltgeist? Ein Romancier, der in Tagespolitik dilettierte? Feuchtwanger, der übrigens kein Wort Russisch verstand, war nicht der einzige. Bert Brecht notierte 1936: „Die Prozesse sind ein Akt der Kriegsvorbereitung.“ Ernst Bloch verteidigte im Prager Exil öffentlich die Prozesse, Heinrich Mann schrieb, daß, wer der Revolution schade, „schnell und gründlich verschwinden“ müsse.

Der Rückblick verführt zu Besserwisserei und Gratismoral. Heute von Bloch und Feuchtwanger bei einem Gläschen Prosecco eine mannhafte Proklamation gegen Stalin einzuklagen ist schlicht und billig. Was heute einfach erscheint, war damals schwieriger als manche Exlinksintellektuellen meinen, die, per Linksintellektuellen-Bashing, ihr Billett ins Reich der Liberalen lösen. So schrieb im September 1936 Kurt Hiller, ein antistalinistischer Linker, nach Lektüre des Prozeßberichtes: „Daß dieser Bericht von der ersten bis zur letzten Zeile gefälscht sei, wäre eine groteske Annahme.“ Daß die Opfer der Despotie mit ihren Geständnissen die eigene Vernichtung bejahten, überstieg in diesem Moment auch Hillers Vorstellungsvermögen. Das änderte sich indes später.

Bloch und Feuchtwanger blieb der Blick auf das Offensichtliche hingegen verstellt. Sie sahen sich vor eine benebelnde Alternative gestellt: für Stalin oder für Hitler. Diese Wahrnehmungstrübung fußte bei Bloch gewiß auf kommunistischem Glauben: Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte. Sein „ja, ja, ja“ zu Stalin hatte als Subtext stets den Kampf gegen eigene Zweifel, seine Polemiken den Geruch verschobener Selbstanklagen. Bloch agitierte noch 1938 ungestüm gegen alle Kritiker der Schauprozesse. Über das Rätsel, warum fast alle Angeklagten ihre eigene Vernichtung befürworteten, schrieb er: „Diese Trotzkisten überbieten sich nur deshalb in Geständnisfreude, weil sie die Sowjetunion damit diskreditieren wollen – eine letzte Schädlingsarbeit.“ Diese Pointe war ein rhetorischer Fluchtweg. Die Dialektik, das zentrale marxistische Erkenntnismittel, verkam zum Trick, um zurechtzubiegen, was die Parteinahme störte. Last exit Dialektik.

Feuchtwangers und Blochs Texte sind, in einem an intellektuellen Verblendungen nicht armen Jahrhundert, grelle Beispiele fundamentalen Irrens. Ein, wenn nicht der Schlüssel dafür war die Erfahrung des Faschismus. Das entschuldigt nichts - es erklärt. So erschien Stalin Feuchtwanger als „ins Genialische gesteigerter Typ des russischen Bauern und Arbeiters“: ein Führer, der mit der Masse zu reden verstand. Dieser emphatische Ton wurzelte in der Enttäuschung, daß die deutsche Masse dem falschen Führer gefolgt waren. Im Grunde, schreibt Michael Rohrwasser, „ging es Feuchtwanger, Bloch und Brecht um den politischen Traum von einem ,deutschen Stalin‘, nicht als ,Revolutionär‘, sondern als ,Führer‘, der den gigantischen faschistischen Betrug zunichte machen könnte.“

Gewiß gab es für exilierte Deutsche 1938 – vor dem Hitler-Stalin- Pakt – gute Gründe, in Stalin die einzige Figur zu sehen, der Hitler stoppen konnte. Feuchtwanger und Bloch bewegten sich indes jenseits dieser politischen Zweckrationalität. Ihre Blindheit rührte aus einer profunden Furcht vor der Masse. Vier Jahre zuvor hatten die Nazis sie aus dem Land gejagt, nun jubelte das Volk Hitler zu. Nach der Erfahrung, ohnmächtig den Sieg des Nazimobs erleben zu müssen, hofften sie auf eine „wärmende“ Lichtgestalt. Und fanden sie in Stalin, der die Masse im Zaum zu halten schien. Ihre intellektuelle Unredlichkeit bestand darin, die Analyse des eigenen Blicks durch eine Projektion zu ersetzen. Stefan Reinecke