: Ein Jubiläum ohne Jubel
Vor zehn Jahren beschloß die SPD den AKW-Ausstieg binnen zehn Jahren. Zwar gibt es heute zwei Meiler mehr als 89. Aber das Volk denkt atomkritisch ■ Von Gerd Rosenkranz
Stellt Euch vor, es ist Jahrestag und keiner erinnert sich. Dabei scheint die Gelegenheit günstig für einen Kübel Häme über die Genossen von der SPD. Nach Jahren innerparteilicher Diadochenkämpfe – Helmut Schmidt contra Erhard Eppler – versprachen die Sozialdemokraten am 27. August 1986 „alles zu tun, damit innerhalb eines Zeitraums von zehn Jahren eine Energieversorgung ohne Atomkraft für die Bundesrepublik Deutschland verwirklicht wird“. Unter dem Eindruck der Strahlenwolke von Tschernobyl war beim Nürnberger Bundesparteitag die Schar der sozialdemokratischen Atomfreunde auf schlappe zwei Delegierte zusammengeschmolzen. Alle anderen hoben die Hand für den Totalausstieg bis zum heutigen Dienstag. Daraus wurde nichts, das hat sich herumgesprochen.
Im August 1986 speisten in der alten Bundesrepublik 17 kommerzielle Meiler Nuklearstrom ins Netz. Vier weitere kamen bis 1989 hinzu. Den in Würgassen knipste die PreussenElektra aus, den in Mühlheim-Kärlich stoppten die Gerichte. Macht per Saldo: plus zwei. Wer hat uns verraten?
Jene, die die Antwort immer schon kannten, werden heute keinen Grund sehen, ihre Meinung zu ändern. Unrecht haben sie trotzdem. Der Unterschied zwischen „Sofortaussteigern“ und Sozialdemokraten liegt darin, daß erstere sofort scheiterten, während die Zauderer von der SPD zehn Jahre später eingestehen müssen, ihr Ziel verfehlt zu haben. Mitte Juni 1986, sechs Wochen nach Tschernobyl, bestätigten die Wähler und Wählerinnen den Atomstrategen Ernst Albrecht (CDU) als niedersächsischen Ministerpräsidenten. Die grünen Sofortaussteiger profitierten nicht von der antinuklearen Stimmung, die die Republik erfaßt hatte. Auch die atomkritisch gewendete SPD stagnierte. Nach Albrechts Wiederwahl mußte eigentlich jedermann klar sein, daß die Sehnsucht nach Stabilität hierzulande schwerer wiegt als die Angst vorm Atom. Die radioaktive Verunsicherung sollte durch rot-grünes Chaos nicht noch potenziert werden.
Der Atomausstieg also läßt auf sich warten, die Meiler altern und bleiben am Netz. Unter dem dauernden Neutronenbombardement nähern sich zentrale Reaktorkomponenten ihrer Altersgrenze. Trotz mancher sicherheitstechnischer Aufrüstung im Detail: Daß das deutsche Nukleararsenal sich heute katastrophensicherer präsentiere als 1986, glauben im Ernst nicht einmal die Betreiber. Immerhin, in den neuen Bundesländern verschwanden 1990 mit dem irrealen Sozialismus auch die sowjetischen Risikomeiler. Doch das mit der Atomstromnutzung in Deutschland verknüpfte Gesamtrisiko ist seit Nürnberg gewachsen, nicht gesunken.
So weit, so deprimierend. Doch die nüchterne Bilanz vernebelt die realen Wirkungen der sozialdemokratischen Nuklearwende des Tschernobyl-Jahres. In Wirklichkeit nämlich entfaltete der „Nürnberger Ausstiegsbeschluß“ eine gesamtgesellschaftliche Dynamik, die seinerzeit auch die sozialdemokratischen Parteitagsstrategen unterschätzten.
Die demonstrative Kehrtwende stabilisierte das antinukleare Klima innerhalb und außerhalb der Partei nachhaltiger als alle Demos der Nach-Tschernobyl-Epoche. Das Volk blieb in seiner Mehrheit atomkritisch, weil die Volkspartei SPD sich atomkritisch präsentierte. Und die Genossen hielten den neuen Kurs, weil die Demoskopen ihnen recht gaben – ein kommunikativer Kreisprozeß, der sich, allen Unkenrufen der Anti-AKW-Aktivisten über die „Umfallerpartei SPD“ zum Trotz, bis heute fortsetzt.
Seit Nürnberg aktualisiert jede Störung in einem Atommeiler, jeder tatsächliche oder vermeintliche Atomskandal, jeder Tschernobyl-Jahrestag, mancher Transport eines strahlenden Müllcontainers und jeder Fernsehkrimi, in dem die um unsere Kindeskinder besorgte Kommissarin die Dunkelmänner von der „Atommafia“ zur Strecke bringt, die nuklearfeindliche Stimmung im Lande. Die Gorlebener Castor-Gegner verdanken ihre republikweite Resonanz nicht zuletzt den Dauerscharmützeln zwischen Bonn und den sozialdemokratisch oder rot-grün regierten Ländern, die das antinukleare Risikobewußtsein wachhalten. Auch das gibt es erst seit Nürnberg.
Sage niemand, das alles habe keine Konsequenzen. 30 Milliarden, jammern die Strombosse bei jedem ihrer Selbstvergewisserungstreffen, habe man in Kalkar, Hamm-Uentrop, Wackersdorf, Mühlheim-Kärlich oder Hanau in den Sand gesetzt, weil „wir die gesellschaftspolitischen Entscheidungsprozesse nicht bewältigen“ (PreussenElektra-Chef Hans-Dieter Harig). Der ökonomische Vorteil der nuklearen Stromproduktion schwindet. Schon Anfang der neunziger Jahre legten die beiden größten Atomstromproduzenten im Lande, RWE und PreussenElektra, den Schlüssel zum Bau neuer Atomkraftwerke in die Hand der parlamentarischen Opposition. Ohne Zustimmung beider großen Parteien werde man das Risiko milliardenschwerer Investitionen nicht mehr auf sich nehmen. Wo gibt es ein solches Junktim sonst noch: Die Wirtschaft verlangt als Voraussetzung für ihr Engagement quasi verfassungsändernde Mehrheiten bei Bund und Ländern?
Das allein motiviert die Bundesregierung zu immer neuen Anläufen, die SPD im Namen des „Konsenses“ zurückzulotsen auf den nuklearen Pfad der Tugend. Die Sozialdemokraten haben – mehr oder weniger offen, mehr oder weniger freiwillig – die Zehnjahresfrist für den Ausstieg ab Machtübernahme in Bonn aufgegeben. Opportunismus, Wankelmütigkeit? Oder vielleicht doch nur Anerkennung der politischen und ökonomischen Realitäten in einem Land, in dem eine atomkritische Mehrheit die Atomparteien CDU,CSU und FDP immer wieder mit parlamentarischen Mehrheiten ausstattet? Und: Verlangen denn die Grünen noch ernsthaft den Sofortausstieg? Wenn überhaupt, dann als Ausgangspunkt möglicher Verhandlungen, an deren Ende bestenfalls ein Stufenplan für das Abschalten der laufenden Meiler stehen könnte – in Zeiträumen, die ganz sicher „Nürnberg“ näher kommen als „sofort“.
Derzeit deutet wenig darauf hin, daß die Atomenergienutzung in Deutschland überhaupt als Ergebnis einer bewußten politischen Entscheidung sterben oder überleben kann. Langes Siechtum scheint programmiert oder plötzlicher Katastrophentod. Verantwortlich sind nicht die Oppositionsparteien. Beide haben sich bewegt. Bundesforschungsminister Jürgen Rüttgers entblödete sich letzte Woche nicht, Gentechnikgegner als „kranke Gehirne“ zu denunzieren, weil diese ihren Protest fortsetzen, obwohl eine stabile Mehrheit den Genmanipulateuren wohlwollend gegenüberstehe. Das mag ja sein. In der Atomenergiefrage regiert die Regierung, der Rüttgers angehört, seit zehn Jahren gegen die Mehrheit. Kranke Gehirne?
Das Problem der SPD in der Atomenergiefrage heißt nicht Nürnberg. Mit den dort gefaßten Beschlüssen hat die Partei gelernt umzugehen, ohne umzufallen. Das Problem heißt Gerhard Schröder. Der will den Genossen einen Ausstieg aufschwatzen, der mit dem Einstieg in eine neue Reaktorgeneration beginnt. Der deutsche Prototyp des Europäischen Druckwasserreaktors (EPR) soll um 2010 seinen Betrieb aufnehmen und dann 60 Jahre Strom liefern. Ausstiegstermin wäre somit 2070. Frühestens. Man darf gespannt sein, ob Schröder bei kommenden Konsensrunden erneut als als sozialdemokratischer Verhandlungsführer in die Kamera lächelt.
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