: Amok am Küchentisch
„BAP“-Gig im Sonderzug in Altona, und Verdamp lang her haben sie auch gespielt ■ Von Ulrike Winkelmann
„Auf Gleis elf fährt in Kürze der BAP-Sonderzug aus Berlin ein“ – Applaus für die Durchsage! Die Spannung auf dem Bahnsteig ballt sich, gedämpft nur von Holsten-Maibock-Dunstwolken. Vereinzelt will jemand sogar Kölsch-Flaschen gesehen haben. Fan-Talk allenthalben: „Verstehst du die immer, wenn die singen?“ „Klar, den Sinn, wie bei Englisch.“
Ziemlich punkt halb drei dann der in F.D.P.-Farben gehaltene B.A.P.-Zug (zur Erinnerung: Bap, Kölsch für Vater), zweiter Applaus, drei Container, zwei Personenwaggons. Wo sind die Helden? Kamerateams und ReporterInnen rennen zunehmend hektischer an der Bahnsteigkante entlang. Sollen woanders doch kleine Mädchen ihre Boy-Groups anweinen, für die Jungs von BAP trifft sich das gute alte gleiche Publikum wie schon zum Anti-Nato-Gipfel 1982 auf den Bonner Rheinwiesen, und irgend etwas müssen gutherzige Menschen mit zurückweichendem Haaransatz und langen Nackenhaaren und Jeanshemd ja hören.
Klasse! Ein Gratiskonzert! BAP touren über die Bahnhöfe, um „endlich den Leuten die neue Platte vorzustellen, die sie auch hören sollen“. Das sagt Wolfgang Niedecken, Herz, Stimme und Seele der einzig echten Bürgerini-Band mit Weltgeltung, einleitend (Übertragung ins Hochdeutsche: taz). Üblicherweise, sagt Niedecken, sei das bei Plattenvorstellungen – die neue heißt übrigens „Amerika“ – nämlich folgendermaßen, da „smalltalked man sich bei den Plattenvorstellungen so beim Büffett mit den Leuten von der Plattenfirma und von der Presse durch den Abend, und im Hintergrund läuft eher störend das neue Album.“ Und der Junge sieht so gut aus wie immer mit seinen blauen Augen!
Deshalb also der Gig gestern in Altona, Wolfgang lehnt sich aus dem zur Bühne umgerüsteten Container wie der Bananen-Ede auf dem Fischmarkt und macht mindestens ebensoviel Stimmung, verursacht möglicherweise ähnlich viele Kaufimpulse wie der Ede, und bestimmt zweitausend Leute sind auch da.
„Das nächste Lied handelt von einem Typ, der ist arbeitslos geworden und sitzt am Küchentisch und läuft gedanklich Amok“ – richtig gute Themen geraten im Deutschrock nicht außer Mode. „Nicht zum Zyniker werden“ singt Wolfgang, und warum auch? Schließlich spielen sie „Verdamp lang her“ schon nach einer halben Stunde, endlich was zum Mitsingen (wie alt war man damals?), und „Waschsalong“ gleich hintendran!
Die Polizei, sagt der Wachtmeister, filmt nur „wegen des Risikos bei dem Gedränge“, um eventuell das Dokumentationsmaterial beisammen zu haben, wenn bei all den klatschenden Händen überm Kopf jemand das Gleichgewicht verlieren und unter den Zug gespült werden sollte. In München sei der Auftritt auf dem Bahnsteig schließlich verboten worden und da ist man in Hamburg ja schon kulanter.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen