piwik no script img

■ Daniel Goldhagens Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ wird häufig mißverstanden – eine Zwischenbilanz der KritikDer Menschlichkeit gerecht werden

Zwei Vorwürfe sind es, die Daniel Goldhagen gemacht wurden: Er würde verdammen und vereinfachen. Er vereinfache die deutsche Geschichte, indem er den Holocaust behandele, als sei er ein „nationales Projekt“, das für die Deutschen etwas Ähnliches bedeute wie der Sozialismus für Stalin: Antisemitismus in einem einzigen Land. Es ist zwar plausibel, sich zu fragen, warum Goldhagen schreibt: „Allein im Hinblick auf das Motiv ist bei den meisten Tätern eine monokausale Erklärung ausreichend.“ Bemerkenswert ist hierbei jedoch, wie Goldhagen vor allem als ein Eindringling auf ein Gebiet bezeichnet wurde, das von etablierten Historikern bereits abgesteckt war.

Jede Forschungsstrategie, die das Material über einige der schlimmsten Verbrechen des 20. Jahrhunderts durchforstet, muß eine Reihe schwieriger Entscheidungen treffen. Christopher R. Browning hat für sein Buch „Ganz normale Männer. Das Reserve- Polizei-Bataillon 101 und die ,Endlösung‘ in Polen“ keine Aussagen von Opfern benutzt, mit der Begründung, der Kontakt zwischen den Juden in polnischen Städten und den Polizeibataillonen, die sie zusammentrieben, sei für bedeutsame Zeugenaussagen viel zu flüchtig gewesen. Goldhagen jedoch hat Zeugenaussagen gefunden, in denen die Opfer über den Eifer und die Grausamkeit der Mörder sprechen. Er behauptet auch, Beispiele dafür gefunden zu haben, wo Browning Täteraussagen verwendet, die widersprüchlich oder gar falsch sind.

Goldhagen allerdings glaubt nicht, daß eine Erklärung adäquat sein kann, die nicht sowohl die Bandbreite als auch die Differenzierung des Täterverhaltens erklären kann. Er will mit dieser Methode verstehen, warum die Deutschen ihren jüdischen Opfern gegenüber eine besondere Mutwilligkeit an den Tag legten und warum die Juden (im Gegensatz beispielsweise zu Polen) nicht als Sklaven benutzt, sondern in den Tod geschickt wurden.

Nicht Vereinfachung, sondern eine andere Wertung der Komplexität liegt Goldhagens Ansatz zugrunde. Für die meisten Historiker bedeutet Komplexität – in diesem Zusammenhang – immer, daß man die Motive der Täter auffächert (und den Prozeß, der zum Genozid führte), wohingegen die Bandbreite der Taten eher monochromatisch bleibt.

Goldhagen hat seine Prioritäten mehr oder weniger umgekehrt gesetzt. Der Autor will entschuldigende Argumente nicht für bare Münze nehmen. Er favorisiert einen Ansatz, bei dem ein einziger Faktor – der Antisemitismus – die Beweislast für die Extreme des Verhaltens trägt. Diese starke Betonung antisemitischer Haltungen zur Erklärung des engagierten Völkermords läßt Grauzonen im Benehmen der Täter zweifellos außer acht.

Aber ist „Hitlers willige Vollstrecker“ auch ein politologisches Werk ohne Politik? Obwohl Goldhagen Hitlers zentrale Rolle betont, glauben seine Kritiker, die skizzenhafte Behandlung der politischen Mobilisierung durch die Nazis reduziere die Diktatur zum Vorwand, der den Deutschen die Chance gibt, sich an den Juden auszutoben, wie sie es schon seit der Kaiserzeit hätten tun wollen.

Brownings Studie schließt mit der Frage, ob nicht jeder von uns sich auf – unter entsprechenden Umständen – ähnliche Weise verhalten hätte. Doch weder diese abstrakten Überlegungen noch die vielen anderen Versuche, den Holocaust mit Hilfe universalistischer Theorien über Modernisierung zu beschreiben, sind so heftig als ahistorisch attackiert worden wie Goldhagens Bemühung, die Shoah aus der deutschen Geschichte zu erklären.

Goldhagens Hauptargument für seinen Ansatz: Kein Erklärungsversuch des Holocaust ist plausibel, der nicht zur Kenntnis nimmt, daß die Täter glaubten, es sei richtig, Juden zu töten. Wenn er Motive wie Gruppendruck, Streß oder Apathie zurückweist, tut er das nur, nachdem er sorgfältig geprüft hat, was eigentlich mit diesen Beschreibungen gemeint ist.

Vielleicht könnte Goldhagen genauer erläutern, wo er die Täter auf dem Kontinuum von Ergebenheit bis Akzeptanz des eliminatorischen Vorhabens ansiedelt. Aber „Hitlers willige Vollstrecker“ nimmt, mehr als jedes andere Buch zu diesem Thema, immerhin Max Webers Einsicht ernst, daß legitime Autorität mehr ist als nur eine Frage des Befolgens von Anweisungen.

Bei einer Veranstaltung im Washingtoner Holocaust Memorial Museum beschuldigte Browning Goldhagen, den Tätern abzusprechen, daß sie auch Menschen seien. Tatsächlich glaubt der Kritisierte, daß er ihrer Menschlichkeit mit seiner Beschreibung gerecht wird. Er glaubt, daß die Bandbreite des Täterverhaltens und die kulturellen Rahmenbedingungen des Mordens nicht auf ein unpersönliches, von Zwang bestimmtes moralisches Vakuum hinweisen, in dem die Täter ihre Skrupel betäuben konnten, gegen wehrlose Menschen vorzugehen. So will es die traditionelle Holocaust-Forschung. Goldhagen hingegen geht von einem sozialen Umfeld aus, das es gewöhnlichen Deutschen ermöglichte, ihrer Überzeugung in Wort und Tat Ausdruck zu verleihen, es sei legitim, Juden, die als Schädlinge des deutschen Volkes galten, zu töten.

Viele deutsche Kritiker glauben offenbar, daß Goldhagen alle ihre Landsleute in einen speziellen Höllenkreis auf ewig verbannen will. Nichts darüber findet sich in seinem Buch. Weder Belehrungen noch Empfehlungen für die aktuelle deutsche Politik lassen sich daraus ableiten.

Der einzige moralische Schluß, den man ziehen kann, ist der, daß es für jedes Land wichtig ist, Rassismus und Antisemitismus mit wirkungsvollen populären Gegenbildern und einem großangelegten institutionellen Schutz seiner Bürger zu begegnen.

Obwohl es nicht Thema seines Buches ist, zu beurteilen, ob die erweiterte Bundesrepublik zu diesem Schutz in der Lage ist, sollte man den Amerikaner Goldhagen ernst nehmen, wenn er sagt, daß die Deutschen heute (im Gegensatz zu den Deutschen von vor 50 Jahren) „wie wir“ sind. Jeremiah M. Riemer

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen