piwik no script img

Finger weg vom Waller Fleet

■ Obdachlosenhelferkreis von St-Stephani fordert Legalisierung des Parzellenwohnens

„Dem einen, der keine Bude hatte, ist die Brühe von den entzündeten, offenen Beinen immer in die Stiefel gelaufen. Aus der Straßenbahn ist der geflogen, weil das so gestunken hat. Der sieht jetzt ganz anders aus, eben weil er im Waller Fleet wohnt.“ Marianne Streitberger redet gern Klartext. Und der ist, wenn man dem Obdachlosenhelferkreis der St. Stephani-Gemeinde Glauben schenkt, dem Streitberger angehört, dringend nötig. Denn noch immer schwelt der Streit um das Waller Kleingartengebiet, das der Bausenator Schulte per Fragebogen nach illegalen, dann zu verweisenden Bewohnern durchkämmen will. Und dabei drohen vor allem die Schwächsten unter die Räder zu kommen: Wohungslose, die gerade ein kleines bißchen auf die Beine gekommen sind.

Die Politik drumherum, die befürchtete Erweiterung des Gewerbegebietes Bayerstraße auf Kosten der Parzellen durch einen CDU-Senator unter Zugzwang - darum geht es der pensionierten Pastorin Streitberger nicht. „Ich sehe nicht die politischen Geschichten. Ich seh die Einzelnen, die auf der Straße vegetiert haben und denen es sehr viel besser geht, auch wenn sie illegal zu Wohnplatz gekommen sind.“ Und dieses Dutzend Illegale würde eine Räumung laut Streitberger ebenso hart treffen wie die Alteingesessenen. Statt alte und neue Illegale nach 22jähriger Duldung zu vertreiben, fordert der Obdachlosenhelferkreis deshalb in einem offenen Brief an den Bausenator die Legalisierung des Parzellen-Wohnens am Waller Fleet.

Weil täglich Obdachlose an der Pfarrhaustür zu St. Stephani standen, trifft sich seit 1981 der Obdachslosenhelferkreis. Zuerst gab es bloß Gutscheine zu fünf Mark für den Kaufmann an der Ecke. Heute wird jeden Sonntag um drei aufgemacht. Dann gibt es Kaffee und Kuchen und um fünf eine Suppe. „Und dann gehen die meisten ganz schnell, weil sie wieder ihren Alkohol brauchen“, erzählt Streitberger. Die Helfer machen sich keine Illusionen. „Wir glauben nicht daran, daß sich da jemand bessert“, meint die agile Ex-Pastorin. „Aber man zeigt den Leuten so, daß man sie als Menschen ansieht und sich nicht wie um Viecher kümmert. Die Menschenwürde fehlt auf den Ämtern.“

Bei allem Engagement ist der Helferkreis aber realistisch. Man kümmert sich nicht um Heilige. „Wir wissen, daß bei den Parzellen auch viel schief läuft, nicht nur bei der Hygiene. Die bezocken sich, und einer hat sogar einem armen Hund 600 DM als Maklercourtage für einen illegalen Parzellenplatz abgeknöpft“, erzählt Streitberger. Doch gerade deshalb, so die Forderung aus dem Stephaniviertel, müßten die Parzellenbewohner nicht in legale und illegale aufgespalten werden. Streitberger: „Statt dessen sollte man nochmal sowas wie der Kaisen machen. Das Wohnen legalisieren, Sickergruben anlegen, Kanalisation.“

Bei der Senatorin für Soziales zeigte man sich gestern von der Forderung des Helferkreises überrascht. Dr. Otto Joachim: „Das Problem mit den Obdachlosen ist so noch gar nicht an uns herangetragen worden.“ Eigentlich fühle man wegen des Engagements in den Inneren Mission im Bereich Obdachlose gut informiert. „Und durch eine Freigabe der Kleingartengebiete werden, glaube ich, Wohnraumprobleme auf's Ganze gesehen nicht gelöst.“

Ein Beleg mehr dafür, daß die Kluft zwischen dem Helferkreis und den Ämtern riesig ist. „Aber die Ämter sollten sich mal fragen, woran das liegt. Die Ämter können doch nicht helfen, weil Gesetze, denen sie folgen müssen, nicht mehr in die Zeit passen“, schimpft Streitberger.

Daß das Parzellenhausen bislang illegal ist, bestreitet die agile alte Dame gar nicht. „Aber wenn das gegen die Gesetze ist, müssen die eben geändert werden.“ LR

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen