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Linke auf dem rechten Weg

Um eine neue Ära progressiver Politik in den USA einzuläuten, hoffen linke Demokraten auf den Sieg des kleineren Übels Bill Clinton  ■ Aus Chicago Andrea Böhm

Die beiden älteren Herren saßen in einer der schlecht beleuchteten, spärlich besetzten Reihen für die unwichtigeren Gäste. Michael Dukakis starrte gedankenverloren auf die Rednerbühne, auf der pathetische Fahrstuhlmusik wie bei einer „Oscar“-Verleihung den nächsten Redner ankündigte. Sein Nachbar George McGovern pulte an einem Styroporbecher. Niemand scharwenzelte zum Small talk um sie herum, niemand fragte sie nach Eindrücken oder Kommentaren – geschweige denn nach einem Redebeitrag.

Normalerweise springt man mit ehemaligen Präsidentschaftskandidaten auf einem Parteitag so nicht um. Auch dann nicht, wenn sie als Verlierer in die Geschichte eingegangen sind – Dukakis 1988 gegen George Bush, McGovern 1972 gegen Richard Nixon. Doch in ihrem Fall handelt es sich um zwei Galionsfiguren des liberalen – soll heißen: linken – Flügels der Demokratischen Partei. Und die versucht nun schon seit Jahren, das Wörtchen „liberal“ abzuschütteln, als handele es sich um eine ansteckende Krankheit. Zuletzt ging dabei eine der wichtigsten sozialstaatlichen Errungenschaften in den USA zu Bruch, als US-Präsident Bill Clinton, seines Zeichens ein „neuer“ – soll heißen: konservativerer – Demokrat, das Gesetz zur Reform des Sozialhilfesystems unterzeichnete und damit die in den 30er Jahren eingeführte bundesstaatliche Grundabsicherung für Arme abschaffte.

Das letzte, was man vor diesem Hintergrund in Chicago erwartete, war eine optimistische Linke. Doch genau die meldete sich im Umfeld des Parteitags zu Wort. Gewerkschafter, Kongreßmitglieder, Ökonomen, Ökologen, Feministinnen und Kirchenfunktionäre gründeten eine Organisation namens „Campaign for America's Future“, die in den kommenden Jahren mithelfen soll, eine „neue progressive Ära“ ins Leben zu rufen. Viele kennen sich noch aus besseren Zeiten in den 80er Jahren, als man in der „Rainbow Coalition“ gemeinsam Wahlkampf für Jesse Jackson machte.

Jackson selbst – innerhalb der Demokraten inzwischen völlig an den Rand gedrängt – zählt natürlich zu den Gründungsmitgliedern. Das mit Prominenten bestückte „Hollywood Women's Political Committee“ ist ebenso vertreten wie die größte linke Frauenorganisation „NOW“ und die gesamte Führung des Gewerkschaftsdachverbandes AFL-CIO. Vor allem die Gewerkschaften zeigen neuen Schwung: Zumindest in einigen Branchen können sie Mitgliederzuwachs verzeichnen. Und mit einer Finanzspritze von 35 Millionen Dollar für die Wahlkämpfe demokratischer Kandidaten ist das Ohr der Parteiführung für die Gewerkschafter wieder offener geworden.

Glaubt man den Vertretern der „Campaign for America's Future“, dann sind die Voraussetzungen für eine neue progressive Politik und frischen linken Wind bei den Demokraten selten so gut gewesen wie heute. „75 Prozent der Arbeitnehmerschaft sehen sich seit fünfzehn Jahren einem ökonomischen und sozialen Druck ausgesetzt, indem sie für immer weniger Geld immer mehr arbeiten müssen“, sagt Jeff Faux, Direktor des linksliberalen Think-tanks „Economic Policy Institute“ (EPI). „Das ist unsere Basis, unsere Wählerschaft, zu der die Republikaner nur so lange Zugang haben, wie sie diese Krise zu einem moralischen, nicht einem ökonomischen Problem erklären können.“

Für Faux ist die Schlußfolgerung relativ einfach: Um die wachsende soziale Ungleichheit in den USA zu bekämpfen, „müssen die Demokraten sich wieder auf eine Politik staatlicher Investitionen besinnen“. Dafür wiederum müsse man – aller Frustrationen zum Trotz – für Bill Clintons Wiederwahl und die Wiederherstellung einer Mehrheit der Demokraten im Kongreß kämpfen. Daß Clinton mit einem recht bescheidenen Investitionsprogramm zur Ankurbelung der Wirtschaft in seinem ersten Amtsjahr an einem demokratisch beherrschten Kongreß scheiterte, erwähnte Faux nicht.

Andere stehen allerdings noch unter dem Schock über die Abschaffung des Bundessozialhilfesystems. „Eine Regierung, die einst das Recht auf Krankenversicherung durchsetzen wollte, hat nun ein kaputtes Sozialhilfesystem reformiert, indem es die Verpflichtung der Nation gegenüber den Armen zurückweist“, schrieb Richard Goodwin, einst Berater von John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson, in der New York Times. „Ein Gesetz, das Arme und Immigranten mit dem Stiefel im Nacken zu Boden drückt“, erklärte Maxine Waters, demokratische Kongreßabgeordnete aus Los Angeles, die in ihrem Wahlbezirk in South Central die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit, Armut und dem Abbau staatlicher Hilfen hautnah erlebt. Für sie ist die „Campaign for America's Future“ vor allem ein Vehikel, „mir meine Partei zurückzuerobern“. Das Gesetz zur Sozialhilfe kam schließlich mit zahlreichen Stimmen von Demokraten im Kongreß zustande.

Am Ende versicherte Waters, wenn auch zähneknirschend, ihre Loyalität zum Präsidenten – und folgte damit dem Beispiel so vieler anderer Linker inner- und außerhalb der Partei. Bei aller Enttäuschung über den Mann aus Arkansas: Die politische Alternative zu Clinton heißt Bob Dole. Der würde den Obersten Gerichtshof mit einer Mehrheit von Abtreibungsgegnern ausstatten, im Kampf gegen Drogenkriminalität das Militär einsetzen und weitere Restriktionen gegen Immigranten durchsetzen. Am Ende war es ausgerechnet Jesse Jackson – von Bill Clinton mehr als einmal öffentlich gedemütigt –, der in Chicago den guten Parteisoldaten spielte: „Wer wie Clinton den Mindestlohn heraufsetzt, Gleichstellungsprogramme schützt und für schärfere Waffenkontrolle kämpft, der verdient eine zweite Amtszeit“, rief er den Zweiflern zu. „Auch Roosevelt, Kennedy und Johnson sind nicht als progressive Kandidaten angetreten. Progressive Bewegungen unter den Wählern haben sie dazu gemacht.“

Jesse Jackson bekam mit Abstand den lautesten Beifall. Bloß außerhalb der Halle hörte ihn kaum jemand. Die Organisatoren des Parteitags hatten ihm Redezeit am frühen Abend zugeteilt – bevor die großen Fernsehsender ihre Übertragung begannen.

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