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Politische Camouflage

■ Clinton wechselt in Chicago nochmals das Kostüm

Operation gelungen, Patient stabil, aber leicht desorientiert. Die Demokraten haben in Chicago, Schauplatz ihres Desasters aus dem Jahre 1968, endgültig den Ruch von Chaos und Aufruhr abgelegt. Es herrscht – nach kurzfristiger Aufregung um den „Sexskandal“ von Clintons Topberater Richard Morris – eitel Sonnenschein. Der Präsident baut seinen Vorsprung in den Meinungsumfragen aus, Senatoren verkünden, man werde die Mehrheit im Parlament wiedergewinnen, und hinter den Kulissen läuft Al Gores Wahlkampfmaschine für das Jahr 2000. Dank Clinton und Morris hat sich die Partei aber auch von einem politischen Erbe verabschiedet: dem Bekenntnis zu staatlicher Hilfe für die Schwachen, das Roosevelt 1932 auf einem Parteitag verkündete – ebenfalls in Chicago.

Diese Clintonsche Kombination von Siegesinstinkt und Opportunismus schluckt nicht jeder. Die Verbitterung über diesen Kurs war in Chicago deutlich zu hören – allerdings nie dann, wenn es zählt: zur besten Sendezeit. Doch Clinton wäre nicht Clinton, würde er nicht wieder einsetzen, was seine Kritiker als „Prinzipienlosigkeit“ ansehen, seine Bewunderer als „politisches Judo“: jedem Druck solange nachgeben, bis er sich in eine eigene Bewegung umsetzen läßt und den Gegner zu Fall bringt. In Chicago war es Zeit, das Kostüm des „Republikaners“ wieder mit dem Anzug eines „neuen Demokraten“ zu vertauschen. Mit denselben Stilmitteln wie in San Diego – Weichzeichnervideos, herzzerreißende Schicksalsgeschichten – wurde das Kontrastprogramm verkauft: mehr Waffenkontrolle, mehr staatliche Arbeitsmarktpolitik, mehr Forschung für Aids, mehr Sympathie für Minderheiten – und das alles im Namen von family values. Wieviel Substanz dahintersteckt, darüber läßt sich streiten. Doch Symbolik ist in der US-Politik weit wichtiger als in Europa. Die Inszenierung von Chicago reichte, um sogar die frustriertesten Linken in der Partei wieder auf Clinton-Linie zu bringen. Zumal auch diese ihrem ungeliebten Präsidenten eines zugute halten mußten: Ihm ist das Kunststück gelungen, die zentrale Metapher der Rechten, family values, zu klauen. Den Progressiven hat er damit das derzeit populärste Verpackungspapier geschenkt. Die Inhalte müssen sie selbst besorgen. Andrea Böhm

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