: Tatort: Rathaus
■ Wenn der Amtsschimmel wiehert, verzweifeln die Bürger / Eine Studie will jetzt herausfinden, ob Beamte zu hoch zu Roß sitzen
Am Schluß war der Aktenberg fast so hoch wie die Tanne, die den Papierkrieg entfacht hatte: Nach fünf Jahren Kampf gegen Beamtenwillkür fühlte sich ein Bürger aus Duderstadt bei Göttingen zumindest nicht mehr als Dieb – immerhin.
Am Institut für Volkskunde der Universität Göttingen wollen Wissenschaftler jetzt herausfinden, ob Menschen auf der Strecke bleiben, wenn Beamte allzu hoch auf dem Amtsschimmel sitzen.
„Bleibt bei der übertriebenen Handhabung der Vorschriften durch eifrige Staatsdiener das Menschsein draußen?“, möchte Volkskundler Edmund Ballhaus wissen.
„Allein durch Anordnungen oder Bußgeldbescheide fühlen sich unschuldige Bürger bedroht oder stigmatisiert“, erklärt Ballhaus am Beispiel des sogenannten Tannen-Kleinkriegs. Ein Duderstädter hatte den Baum in Nachbars Garten gekappt, weil der zuviel Schatten auf sein Wintergemüse warf. Die Pflanzen sollten nicht eingehen. Damit verstieß er gegen Nachbarschaftsrecht und erhielt prompt eine Diebstahlsanzeige und einen Bußgeldbescheid, den er auch bezahlte. Trotzdem rückte die Polizei an. Im Wohnzimmer fanden die Beamten eine geschmückte Tanne. Dieser Baum war jedoch nicht identisch mit der fehlenden Tannenspitze des Nachbarn – der Heimgesuchte war also eindeutig kein Dieb.
Dies sah die Staatsanwaltschaft Göttingen allerdings anders: Daß der Mann den Bußgeldbescheid bezahlt habe, komme einem Schuldeingeständnis gleich. Fünf Jahre lang schrieb der Beschuldigte nun an Ministerien und Gerichte, bis endlich die Oberstaatsanwaltschaft Celle mitteilte: „Sie sind kein Dieb.“ Die Behörden hatten dem Mann nie Gelegenheit gegeben, den Vorfall zu erklären, fand Ballhaus heraus. „Keiner hatte ein offenes Ohr – dafür war keine Zeit.“
Ähnlich hanebüchen: die Geschichte von dem Steinhaufen, den die eine Behörde als „unsachgemäße Bauschuttabladestelle“, die andere als „wertvolles Naturreservat und Unterkunft für seltene Eidechsen“ klassifizierte.
Diesen Aktenberg zu beseitigen werde so schwierig wie das Entfernen des Steinhaufens, schildert Ballhaus.
Die Beamten seien alle sehr fleißig, aber kaum jemand mache sich Gedanken über die Folgen seines Tuns. Ballhaus: „Die Bearbeiter handeln für den Staat, lehnen sich zurück und interessieren sich nicht mehr für den Fall.“ Es existiere eine Ungleichheit zwischen oben und unten. „Kein Wunder, daß die meisten Rechtsschutzversicherungen keine Fälle gegen den öffentlichen Dienst übernehmen. Die gehen jeden Weg, eine gütliche Einigung gibt es da nicht“, beschreibt der Volkskundler die Erfahrungen, die er bei der Sammlung von inzwischen 150 Fällen gemacht hat.
Neben betroffenen Bürgern sollen demnächst aber auch die Beamten befragt werden. „Wir wollen nicht nur Lachnummern sammeln, sondern dem Verständigungsproblem auf die Spur kommen“, sagt Ballhaus.
Oft verstünden die Bürger den Sprachcode der Beamten gar nicht. Um überhaupt eine Chance zu haben, müsse man jedoch die gleiche Sprache sprechen. Sein derzeitiges Fazit: „Wer viel Geld hat, leistet sich einen Anwalt. Wer es mit seinen eigenen Worten versucht, scheitert an den Paragraphenreitern.“ Kendra Briken, dpa
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