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Bericht zum Desaster der russischen Nordflotte

■ Umweltorganisation Bellona stellt Daten der Öffentlichkeit zur Verfügung

Berlin (taz) – Im August 1995 lief das atomgetriebene U-Boot der russischen Nordflotte aus. Doch in den Raketenschächten, wo sonst Raketen mit atomaren Sprengköpfen lauern, steckten Säcke mit Kartoffeln. Das U-Boot transportierte nach Angaben der Rossiskaja Gazeta neben den Erdäpfeln auch Obst von der Kola- zur Jamal-Halbinsel in Sibirien. Schließlich hat die Flotte kein Geld, da kommt jeder Nebenverdienst recht. Solche und eine Fülle weiterer haarsträubender Details sind im Bericht „Northern Fleet“ (Nordflotte) zu lesen. Er wurde am Wochenende von der norwegisch- russischen Gruppe Bellona auch in Englisch und Russisch veröffentlicht.

Der Bericht ist eine ausführliche Sammlung von Fakten zur aktuellen Lage, bietet aber auch Kapitel über die Technik der Atom- U-Boote, die Häfen oder den Umgang mit abgebrannten Brennelementen und früheren Unfällen. Die Quellen sind oder waren öffentlich zugänglich und werden im Text jeweils angegeben. Trotzdem hat die russische Sicherheitspolizei FSB, ein Nachfolger des KGB, einen der russischen Autoren des Reports wegen Verrats angeklagt: Dem ehemaligen Marineoffizier Alexander Nikitin droht sogar die Todesstrafe, er sitzt seit Februar in Untersuchungshaft – für amnesty international der „bisher schwerwiegendste Fall in Rußland seit Auflösung der Sowjetunion“.

Der früheren Supermacht ist die Offenlegung des Alltags im ehemaligen Stolz der sowjetischen Flotte offensichtlich peinlich. Die einst privilegierten Matrosen atomgetriebener Schiffe erhalten nun monatelang keinen Lohn, Wartungsarbeiten unterbleiben. Die Mannschaften weigern sich teilweise auszulaufen. Die Kommandeure müssen dann aus verschiedenen Häfen eine Crew zusammensuchen. Manchmal fehlte die vorgeschriebene Zahl an ausgebildeten Offizieren an Bord, auch bei atombetriebenen, mit Sprengköpfen bestückten U-Booten. Ein Trost: Seit 1989 sinkt die Zahl der Atomschiffe im Dienst Rußlands ständig. So waren zu Sowjetzeiten 196 Atom-U-Boote in den Weltmeeren unterwegs, 1996 sind es noch 109.

Mit der Stillegung kommt auf die Nordflotte und die Militärindustrie Rußlands eine teure Aufgabe zu: die Lagerung der Reaktoren, verstrahlten Stahls und der Brennstäbe. Immerhin 18 Prozent aller Reaktoren der Welt befinden sich hoch im Norden, unweit der Grenze zu Norwegen: 270 Reaktoren sind im Dienst oder stillgelegt. Für deren Bewachung und eine einigermaßen sichere Lagerung oder gar Entsorgung fehlen nach Angaben des Flottenkommandeurs die Mittel. rem

Der Bericht „The Northern Fleet“ ist in Englisch, Norwegisch und Russisch bei Bellona erhältlich (P. O. Box 2141, Grünerlokka, N-0505 Oslo, Fax 22 38 38 62). Preis: 45 britische Pfund, für Studenten oder NGOs gibt es Ermäßigungen. Der Report kann auch direkt aus der Internet-Seite von Bellona auf den eigenen Computer gezogen werden. Adresse: http://www .

grida.no/bellona/ehome/.

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