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Die Balance zwischen Nähe und Distanz

Dunkler Himmel, getragene Klänge, keine Zugaben – oder: Drinnen ist es anders als vor dem Zelt. Ein Bericht von der überfüllten Rio-Reiser-Gedenkfeier im Berliner Tempodrom am vergangenen Sonntag abend  ■ Von Michael Wildenhain

Das Tempodrom, in dem das Abschiedskonzert zu Ehren von Rio Reiser stattfinden soll, ist ein Zelt und liegt am Rand des Berliner Tiergartens. Der Beginn der Veranstaltung ist auf 20 Uhr angesetzt. Mehrere tausend, vielleicht sogar 30.000 Menschen werden erwartet. Noch ist der Himmel hell. Es dämmert. Am gelb und blau gestrichenen Holzzaun, der durch ein Eisengitter verstärkt wird, hängen nahtlos die angeschlossenen Fahrräder. Ein erster Abschleppwagen rangiert zwischen den dicht an dicht geparkten Autos.

Später wird sich herausstellen, daß ungefähr 7.000 BesucherInnen gekommen sind, um an Rio Reiser zu denken, sich von ihm zu verabschieden, auch in der Hoffnung, einige seiner Lieder noch einmal zu hören. Alle dürfen aufs Gelände, das vom blaugelben Zaun begrenzt wird, doch nicht jeder gelangt ins überfüllte Zelt. Auf dem Vorplatz gibt es Stände, an denen man Bratwurst kaufen kann, Bier, Sekt, Cocktails. Weiß die Fresien. Schwarz das Foto Rio Reisers. Auf einem Tisch liegt ein Kondolenzbuch. „Russisch Brot dankt dir für alles.“ Viele Namen. „Kampf geht weiter“. Der Himmel ist dunkler geworden.

Aus dem Zelt getragene Klänge. Vor dem Zelt spielt, flott und munter, die Bolschewistische Kurkapelle. Später wird der Moderator gewisse Schwierigkeiten beim Aussprechen des Wortes Pionier haben und es sich nicht nehmen lassen, die Linkssentimentalen Transportarbeiterfreunde mit Genossen anzureden, denen es, ein Glanzstück, gelingt, beim Spielen von „Keine Macht für niemand“ die Balance zwischen identifikatorischem Angebot und ironischer Distanz wunderbar zu halten.

Hin und wieder geht's daneben. Abgesehen vom Ansager, der mehr als einmal darauf beharrt, daß Rio jetzt – hundertpro – zuschauen kann und alles sicher schön findet, rutscht Marianne Rosenberg „Und ich werde alles geben, daß der Traum Wirklichkeit wird“ ein wenig über die Kante, hinter der Peinlichkeit beginnt.

Aber das zählt wenig. Wichtiger ist das Publikum. Entschlossen, das Konzert zu einem Ereignis werden zu lassen, wird sogar Herbert Grönemeyer heftig beklatscht, beinahe gefeiert. Als Ulla Meinecke – von Rio für Rio – „Ich sitz hier oben auf meiner Wolke, doch du gehst vorbei-bei-bei, Junimond“ singt, tobt der Saal. Es wird mitgesungen. Und obwohl der Moderator nicht müde wird zu betonen, daß er weder Keimzeit – „soll eine Kultband sein“ – kennt noch mit Freigang viel anzufangen weiß, lassen die, die deren Texte Wort für Wort kennen, ihn kommentarlos gewähren.

Schön ist auch der eigentliche Beginn, als ein Knabenchor – Omnibusknabenchor, wenn ich das richtig verstanden habe – nach einem schlesischen Volkslied noch den „König von Deutschland“ singt sowie, kurz vor Schluß, Blixa Bargelds Kreischen und das Krakeelen eines Krakeelers: Wir wollen Rio Reiser hören. Doch der interessanteste Augenblick des Abends geschieht nach ungefähr zwei Dritteln des Konzerts.

Einige Zeit vorher hat der Moderator aus Rio Reisers Biographie zitiert. „Ich wollte nicht länger als Vehikel für politische Programme dienen, deren Wahrhaftigkeit ich nicht überschauen konnte.“ Nun kommt eine Gruppe auf die Bühne, die als Scherben- und-Family-Band angekündigt wird und das Lied vom Organisieren, – geb's zu, eines meiner Lieblingslieder – singt. „Allein / machen sie dich ein / lachen sie dich aus / schmeißen sie dich raus / Und alles, was du dann noch sagen kannst / Das ist aber 'n ganz schöner Hammer, ey, Mann ...“

Das Publikum ist gerade etwas ruhiger geworden. Und ich ertappe mich dabei, wie ich an meine erste Begegnung mit Ton Steine Scherben denke. Schätzungsweise 1976. Zehlendorf, genauer Dahlem. Ich glaube, es war die Mensch-Meyer- Platte, die mir in einem, hm, besseren Bürgerhaushalt von meiner ersten Freundin vorgespielt wurde. Kam mir ein wenig sonderbar vor, Vom Vinyl klang Straßenkampf, ringsum standen Villen.

„... Aber Tausend sind auch kein Pappenstiel.“ Das Lied – „Und du weißt, das wird passieren / wenn wir uns organisieren“ – ist vorbei. Das Publikum zögert. Dann rast nicht die Halle, sondern das Zelt. Zum ersten Mal zahlreiche Rufe: Wir wollen die Scherben! Zum ersten Mal wird Zugabe – und noch mal: Zu-ga-be! – gefordert.

Ratlosigkeit beim Moderator. Die Gruppe hat die Bühne verlassen. Schließlich, man muß es wohl akzeptieren, wird keine Zugabe mehr gegeben. Trotzdem bleibt fühlbar, weshalb ein großer Teil

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fühlbar, weshalb ein großer Teil des Publikums ins Tempodrom gekommen ist. Denn auch wenn Rio Reiser sicherlich äußerst vielfältig war und auch wenn der Moderator sich sehr darum verdient macht, das Menschliche des Sängers – hätte man nicht für möglich gehalten – in allen Facetten hervorzuheben: Schwulsein, Genußmensch, Fernsehauftritte, Haschisch, Weinbrand, Mescalin, ist wahrscheinlich doch nicht zu leugnen, daß Rio Reiser berühmt wurde mit der Gruppe Ton Steine Scherben.

Und es ist, gerade im nachhinein, sehr angenehm zu wissen, daß es in der Bundesrepublik zwischenzeitlich möglich war, auf diese Art berühmt zu werden, und daß eines der herausragenden Medien, die dabei geholfen haben, die Lautsprecherboxen auf dem Demowagen waren, nicht nur die Fernsehauftritte. Am Anfang und am Ende gleichen sich die Bilder. Die Menschen, die das Gelände des Tempodroms betreten und es schließlich wieder verlassen, müssen an einigen Ordnern vorbei, die beim Einlaß nicht nur die Aufgabe haben, die BesucherInnen zu zählen, sondern auch in die Taschen zu schauen, wahrscheinlich wegen der Waffen. Bemerkenswert an diesen Ordnern, die, zugegeben nicht sehr zahlreich, den Eingang besetzt halten, ist, wie sehr ihr Aussehen ihrer Funktion entspricht. Kantige Gesichter, strenge schwarze Kluft.

Ein wenig ähnelte das Publikum den Teilnehmern einer Demonstration vor 10 oder 15 Jahren. Nur fand die Demonstration eben sehr geordnet statt und hinter einem blaugelben Zaun, und die Boxen vom Lautsprecherwagen waren diesmal ziemlich groß und standen neben der Bühne.

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