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Von Sprachspielen unterm französischen Nußbaum Von Matthias Greffrath

Die Schwalben fliegen tief, der Wind wird frisch, wir packen. Monsieur Viennot, der sonst immer freundlich „Arbeit, Arbeit“ höhnt, wenn wir Unkraut zupfen – mehr hat er 44/45 in Baden-Baden nicht gelernt – ruft mitleidig über die Hecke: „Ah, la rentrée?“

Die „Rückkehr“: Das ist viel mehr als das Ende eines Urlaubs. Wenn die letzten Augusttage den Herbst ahnen lassen, räumen die Franzosen Kinder und Kühltasche ins Auto und verlassen La France profonde mit ihren Bauern und kinderreichen Familien in „prekären Beschäftigungsverhältnissen“.

La rentrée: Der Naturzustand ist vorbei, die Gesellschaft fängt wieder an, die unföderale Nation begeht eine Art werktäglichen Nationalfeiertag. Alles soll sich erneuern: Kinderkleider, Automodelle, Hi-Fi-Anlagen, Lebensgefühle.

Die Taschenkalender der Schüler beginnen mit dem 1. September. La rentrée – das hat etwas von erstem Schultag der Nation mit Morgenappell und Aulafeier. Der Präsident ruft sein Kabinett zu „willentlichem Optimismus“ auf, die Regierung macht ein „Seminar“ und spricht den Stundenplan durch. Die Presse orgelt im Hintergrund: Le Monde erklärt die neue Epoche mit einer unendlichen Serie, wo man in einem Satz Globalisierung, Risikogesellschaft, reflexive Moderne und Krise des Individums umfassend beschwören darf: „Ist der Fortschritt ein toter Gedanke?“

„Rentrér – sind wir wirklich pleite?“ fragt der Nouvelle Observateur, und Jacques Attali ruft die Heimkehrer wie ein Nationaltrainer zu großen Dingen auf: Vom Umbau der Kommunalverwaltung bis zur Ausbeutung der sibirischen Ölfelder, die Europa sich à tempo sichern müssen, sonst täten es die Amerikaner.

Lethargie, Stagnation, Apathie, Krise – ach was! „Die Politiker müssen nur ein gemeinsames Projekt definieren und einen Rahmen von 30 Jahren setzen. Die Franzosen spüren, daß die politisch Mächtigen keine wirklich langfristigen Projekte haben. Aber wenn ein Vater, eine Autorität, nicht weiß, wo es hingeht, ist das traumatisierend.“

Unter dem Nußbaum lassen wir uns vom großräumigen Aufbruchspathos beeindrucken – warum nicht bei uns? Aus dem Kofferradio unter der Hängematte quillt die revolutionsgeadelte Sprache. „Lassen Sie sich bloß von den schönen Worten nicht blenden.“ Die Nachbarin faltet beiläufig die Wäsche. „Das sind doch Politiker.“ Stimmt genau: Sie sprechen eine politische Sprache. Sie reden als Staatselite.

Keiner von ihnen käme wie Oskar Lafontaine auf die Idee, die Frage, warum man die öffentlichen Lohnrunden nicht für eine Politik der Arbeitszeitkürzung und Neueinstellung nutze, so zu beantworten: Er sei ja dafür, aber wie könne er mit seinem Gehalt, so etwas von Menschen fordern, die 2.000 Mark netto haben... So spricht der einfühlsame Mitbürger, doch mit Sicherheit nicht der Vater, der sagt, wo es langgeht.

Was immer man von Attalis archaischer Metaphorik hält: Die neuzeitliche Trennung von Staat und Gesellschaft sitzt fest in französischen Köpfen. Dieses ist eine Nation, kein Standort. Der Unterschied könnte folgenreich sein: Es ist etwas anderes, ob man „Arbeitslosigkeit“ sagt oder „Ausgrenzung“; ob „Arbeitszeitverkürzung“ oder „Aufteilung der Arbeit“; ob etwas „Arbeitsbeschaffungsmaßnahme“ heißt oder „Eingliederung“; ob Globalisierung sich semantisch als „Zwang zur Lohnanpassung“ niederschlägt oder als „neue Chancenungleichheit“ auf dem Arbeitsmarkt, die die Elendsten am stärksten treffen; ob man, wie Frau Nolte, Kindergärten als „Standortfaktor“ lobt, oder bezahlbare Wohnungen und gleiche Bildungschancen für die banlieue – als Bürgerrechte – beansprucht werden.

Im einen Fall setzen die Imperative der Wirtschaft die Grenzen des Denkens, im anderen sind es politische Normen, an denen die Legitimität des Staates hängt. Im einen Fall führt das Sprachspiel zu Fatalismus und „Anpassungen“, im anderen zu politischen Forderungen. Im ersten Fall redet man sich heraus, im zweiten erzwingt die Begriffswahl eine Semantik der Entscheidung.

Man mag – politologisch aufgeklärt – über die großen Glocken Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit lächeln, die bei uns nur gebrochen klingen und seit dem Ende der Arbeiterbewegung von niemandem mehr mit Lust geläutet werden. Aber sie ändern den Klang der Politik: Wenn die „Umverteilung der Arbeit kein Wert an sich (ist), sondern vor allem ein Weg, die soziale Staatsbürgerschaft zu sichern“ (Robert Castel), dann wird der Mensch nicht als Wirtschaftsobjekt, sondern als Staatsbürger angesprochen.

Das führt zu anderen Konfliktformen. Dann kämpfen der Bahnwärter in Chalons und die Postbotin in Bourg nicht um ein Paar Centimes und ihre Rente, dann verteidigen sie vielmehr eine Lebensform; dann ist „soziale Errungenschaft“ kein Angriffswort, sondern eine selbstbewußte Verteidigungslinie. Es kämpft sich besser ums Geld, wenn es nicht nur um Geld geht. Gerade in Zeiten, die dem einzelnen die Sicherheit rauben – sagt Martine Aubry, Vizebürgermeisterin von Lille und eine der großen Hoffnungen der Linken – muß der Staat die sozialen Bürgerrechte ausbauen.

La cohésion sociale, der soziale Zusammenhalt, das ist die zentrale Kategorie einer revolutionserfahrenen politischen Elite. Der letzte November hat tief gewirkt. „Ganz leise verliert das Gemeinwesen sein Morgen“ – Paul Valérys Satz über das Ancien régime ist nicht nur Erinnerung, und La rage nicht nur ein Filmtitel, sondern eine politische Kategorie. Eine Erneuerung der Politik müsse mit einer „Nacht des 4. August“ beginnen, heißt es in einer sozialdemokratischen Programmschrift.

Vierter August? Das war die rauschhafte Nacht, 1789, in der die Adligen und der Klerus, geängstigt und erschüttert von Leid und Wut im Lande, ihre Privilegien opferten: Jagdrechte, grundherrliche Abgaben, Gerichtsbarkeiten, Ämter, Steuerfreiheiten. Alles ging in ein paar Stunden über Bord. Ein „Bündnis für Umverteilung“, das nicht mehr angenommen wurde. Es war zu spät.

Hinterm Zaun mampfen die Kühe. Der letzte Pflaumenkuchen dampft, und die Krähen drehen eine Proberunde. Der Herbst wird in Frankreich anders sein als bei uns. Es macht einen Unterschied, ob ein Volk die Gesellschaftsmaschine einmal auseinandergenommen hat oder nicht; ob man der Automobilkonjunktur die Entscheidung über die Art und Weise des Zusammenlebens überläßt oder den „politischen Faden“ findet, der alle ökonomischen Zwänge durchschießt.

„Bonne rentrée, Messieurs dames“, sagt die Postbotin. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie irgendwann einmal auch Schokolade und Thunfisch in ihrem Postamt verkaufen wird. Mathias Greffrath

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