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Sogar die Menstruation wird kontrolliert

■ Als sie ein Kind bekam, wurde ihr wenig später fristlos gekündigt: Eine Näherin erinnert sich an erlittene Schikanen bei der Miederwarenfirma DeMillus in Rio

„Ich möchte als Sekretärin arbeiten, in der Textilbranche ist die Ausbeutung einfach zu groß“, wünscht sich Raquel Conceiçao da Costa. Die 21jährige „Carioca“, wie sich die Einwohnerinnen Rios nennen, hat fünf Jahre lang Büstenhalter und Slips am Fließband zusammengenäht, und zwar in der Miederwarenfabrik DeMillus in Rio. Im August vergangenen Jahres wurde sie fristlos entlassen, wegen „mangelnder Produktivität“.

Bis zur Geburt ihrer Tochter vor nun drei Jahren war Raquel da Costa eine vorbildliche Angestellte. An fünf Tagen pro Woche verbrachte sie vorschriftsgemäß 528 Minuten an der Nähmaschine. Sie machte Überstunden, wann immer sie gebeten wurde, und war niemals krank. Von ihrem Grundlohn, umgerechnet 160 Mark, wurden allmonatlich rund 80 Mark sofort wieder abgezogen, für die Verpflegung, den Transport, die Renten- und Krankenversicherung und den Gewerkschaftsbeitrag. Doch die damals 16jährige glich den Verlust durch Akkordzulagen und Überstunden am Wochenende wieder aus. Als Raquel da Costa anfing, sich sonnabends um ihr Kind zu kümmern, anstatt ihr Gehalt aufzustocken, fiel sie bei ihrem Arbeitgeber in Ungnade.

„Wenn ich am Sonnabend nicht kam, schickten sie mich am folgenden Montag zur Strafe in Zwangsurlaub und zogen den Tag vom Gehalt ab.“ Wieso sie auf diese Art schikaniert wurde, ist Raquel da Costa bis heute nicht klar. Damals zog sie gegen die widerrechtliche Praxis vor Gericht und gewann. Doch der Richterspruch vom 17.11. 1994 wurde in der Praxis mißachtet. „Alles blieb beim alten. Sie schmissen mich zwar nicht raus, teilten mir dafür aber eine neue Chefin zu“, erzählt sie.

Die neue Vorgesetzte von Raquel da Costa hatte weder für die Mutterpflichten noch für das körperliche Wohlbefinden ihrer Untergebenen Verständnis. „Erst als ich vor Schmerz heulte, ließ sie mich zum Betriebsarzt gehen“, erinnert sich Raquel da Costa. Ein Hautausschlag an ihrer rechten Hand hatte die Produktionswerte der Näherin beträchtlich gedrückt. Trotz Attest wurde die für die Arztbesuche aufgewendete Zeit vom Gehalt abgezogen. Der Kommentar ihrer Chefin: „Paß auf, wenn du entlassen wirst, verreckst du vor Hunger auf der Straße.“

Für Raquel da Costa war diese Demütigung noch harmlos. Viel mehr machte ihr die tägliche „Intimvisite“ zu schaffen. Die 2.000 Näherinnen der Miederwarenfirma DeMillus müssen sich täglich bis auf die Haut ausziehen, bevor sie die Fabrik verlassen. „Als erstes werden die Handtaschen auf Intimwäsche untersucht. Wer einen BH von DeMillus trägt, muß eine Quittung vorlegen, um nachzuweisen, wo er gekauft wurde. Sonst gilt es als Diebstahl“, erklärt Raquel da Costa. Danach wird jede Frau in einer Kabine einzeln untersucht. „Wir mußten Schuhe, Strümpfe, Unterhose, alles ausziehen. Bei der Kontrolle wird jedes Teil einzeln abgetastet. Auch wenn ein Mädchen ihre Tage hat, muß sie sich ausziehen. Nur die Vorgesetzten werden nicht gefilzt“, erinnert sich Raquel da Costa noch heute voller Bitterkeit. Selbstverständlich beginnt die Intimvisite erst nach dem Ende der Arbeitszeit um 17 Uhr.

Wenn Raquel da Costa heute einkauft, betrachtet sie die Modelle von DeMillus mit Verachtung. Nicht etwa, weil verletzte Gefühle, Angstschweiß oder die Tränen gedemütigter Kolleginnen in die elastischen Büstenhalter hineingenäht sind. Die schlechte Qualität von DeMillus stößt sie ab. „Die Modelle sind häßlich, die Verarbeitung lausig“, weiß die Miederwarenexpertin aus eigener Erfahrung. Auf die Idee, die Reizwäsche aus Solidarität mit den miserablen Arbeitsbedingungen der Näherinnen zu boykottieren, ist sie noch nie gekommen. Was wäre, wenn es keine Reizwäsche mehr gäbe? Raquel da Costa lacht. „Einfach streiken? Vor der Nähmaschine sitzen und in die Fabrikhalle starren?“, fragt sie ungläubig. „Daran habe ich noch nie gedacht“. Astrid Prange

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