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Kreuzberg steigt ab

Der Berliner Bezirk ist vom Rand in die Mitte gerückt und hat seinen Trotz, sein Flair und seine Zuversicht verloren  ■ Von Heide Platen

Ein Juwelier bietet Designer-Schmuck an, nebenan gibt es mexikanische Häppchen. Die Sprayer gehen demokratisch vor und besprühen die neugestrichenen Fassaden ebenso wie die grauen. Am Schlesischen Tor, da, wo West-Berlin vor sechs Jahren zu Ende war, ist Kreuzberg immer noch bunt. Aber viele Läden stehen leer; keiner hält an. Durch den Stadtteil tost der Durchgangsverkehr.

500 Meter die Wrangelstraße auf und ab, da gibt es eine Billigdrogerie, ein italienisches Restaurant, türkische Reisebüros und Gemüseläden, Eier-Schulz und Otto- Versand, Döner, Import-Export, türkische Bäckereien und Friseure. TürkInnen und KurdInnen sind nachgerückt in verwaiste Läden. Die Mieten sind hoch.

Kreuzberg, hatte ein Experte gesagt, implodiere „von innen“, zurück bleibe „ein schwarzes Loch“. Werner Orlowski ist 66 Jahre alt, nennt sich selbst Kreuzberger Urgestein und ist notorisch optimistisch. Der Exbausenator schwankt zwischen Faszination und Grauen: „Kreuzberg, das war mal am Rand, mit dem Arsch an der Mauer.“ Im November 1989 ist der Bezirk in die Mitte Berlins gerückt. Und nichts ist besser geworden. 25 Prozent Arbeitslose gibt es jetzt, davon 33 Prozent TürkInnen und KurdInnen.

Die kleinen Handwerksbetriebe hat es zuerst erwischt. Sie mußten wegen zu hoher Mieten schließen: „Die Leute haben hier gewohnt, die konnten in Filzlatschen zur Arbeit gehen.“ Die Industrie ist pleite oder in den Speckgürtel rund um Berlin abgewandert. Dafür habe Kreuzberg Miethaie und Spekulanten bekommen – und die Blechlawine.

Osman Akman lebt seit 1980 in Berlin. Er sagt, ein Miteinander von türkischer und deutscher Bevölkerung habe es nie gegeben, nur ein Nebeneinander. Daß die Integration nicht stattfand, sei auch „ein Verbechen der ersten Emigrantengeneration an ihren Kindern“. Seine Mutter habe noch vor fünf Jahren in die Türkei zurückkehren wollen. „Wie oft“, fragt er, „kann man in einem Jahr einen Koffer umpacken? Wir lebten in einer ewigen Warteschleife.“ Die zweite Generation produziere jetzt bei der dritten „schon wieder ein verzerrtes Bild“: „Die Prinzenzöglinge und kleinen Paschas sind, wenn sie aus dem Urlaub in der Türkei zurückkommen, hier wieder der letzte Dreck.“

Daß türkische Familien in das Kleingewerbe der Deutschen nachrücken, liege am Zusammenhalt der Familien bei extremer Selbstausbeutung. Er hat selbst in einem Imbiß gearbeitet, 14 Stunden am Tag für einen Minimallohn. „Das Geschäft“, weiß er, „ist für die Familien ihr Glück.“ Da müssen auch die Kinder mitarbeiten. Und beim Ladenschluß herrsche „Kreuzberger Landrecht“. Manche arbeiten bis 18 Uhr als Bäckerei, danach als Café. Das erzeuge auch Neid. Akman sagt: „Ich habe Angst.“ Dabei sei die Angst vor rechten Anschlägen in seiner „Community“ nicht so groß. Diese Gefahr werde eher hingenommen „wie ein Schicksalsschlag“. Größer sei die Furcht vor den Attentaten der kurdischen PKK und linker, türkischer Organisationen.

Auch Orlowski sieht den Stadtteil ohne Illusionen: „Das Nebeneinander war schon viel, und das läßt nun nach. Da wird Multikulti zur eitlen Selbsttäuschung. Und der Schmelztiegel ist schon gar nicht mehr zu erhoffen.“ Die türkische Community, die noch auf eine gute Ausbildumng ihrer Kinder gesetzt habe, sei „im Eimer“, die althergebrachten Familienstrukturen seien aber auch nicht mehr stabil. Trotzdem sei da „noch was“ bei den Jugendlichen, eine manchmal „unheimlich“ kreative Subkultur, „wie sie auch in den Armenvierteln der Welt gedeiht“.

Orlowski rauft sich die grauen Locken, sein gewichtiger Körper rollt den Drehstuhl hin und her. Pessimismus paßt nicht zu seinem Naturell, aber seine Litanei ist lang: „Weniger soziale Demokratie. Initiativen und Projekte zerbröseln. Die Menschen sind mißtrauisch und ängstlich geworden. Die Furcht wächst, nicht nur um den Arbeitsplatz, sondern auch um das Dach über dem Kopf. Die Leute sind wie gelähmt. Viele haben sich ins Private zurückgezogen.“ Und da nimmt Orlowski die ehemaligen HausbesetzerInnen nicht aus. „Wir waren immer ein armer Stadtteil“, sagt er, „aber die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter.“ Kneipen zum Beispiel gebe es im Stadtteil mehr als früher, aber „andere, entweder teurer oder schäbiger“.

Das Arbeitsamt für Kreuzberg und Schöneberg liegt weitab, am Rand des Stadtteils. Pressesprecher Peter Schaade kann noch nicht lange auf einigermaßen gesicherte Arbeitslosenstatistiken für den Bezirk IV zurückgreifen. Konkurse, Pleiten kleiner Betriebe, Umzüge der Industrie zählt er auf. Insgesamt eine Tendenz „zu einer ungesunden Struktur“. Ungelernte türkische ArbeitnehmerInnen würden von noch billigeren „aus dem Osten“ verdrängt. Fred Schulz ist Sachbearbeiter für ABM. Er sieht seine Aufgabe als „Ergänzung“ des Arbeitsmarktes, findet es aber „problematisch“, wenn ABM-Projekte neue Konkurrenz schaffen. Arbeitsplätze entstünden nur selten: „Die Menschen verschwinden für eine Weile von der Straße.“ Und aus der Statistik. Aber die kurzfristige Beschäftigung helfe immerhin „gegen den schnellen, sozialen Absturz“.

In diesem Jahr im Mai waren in Kreuzberg 25,2 Prozent Arbeitslose registriert. Damit rangiert der Westbezirk noch weit vor dem Problembezirk Prenzlauer Berg im Osten der Stadt. 2.600 Mark errechneten die StatistikerInnen 1995 als Haushaltsdurchschnittseinkommen für SO36 und das besser betuchte Kreuzberg 61 zusammen, 750 Mark weniger als in Rest- Berlin.

Die Obdachlosigkeit steigt, die „Läusepensionen“ sind ausgebucht. Die anfängliche Begeisterung von Investoren, die von Konservativen als Retter des Stadtteils gefeiert wurden, ist merklich gedämpft. Gleichzeitig ist die Einwohnerzahl um 20.000 auf 160.000 gestiegen. Die Menschen rücken in den Wohnungen enger zusammen, sie ziehen nicht mehr weg, auch wenn Kinder kommen. Selbst einigen Altautonomen dämmere, so Orlowski, daß die von ihnen angestrebte Verschärfung der Konflikte im realen Kapitalismus ihrer Mithilfe nicht bedarf. KünstlerInnen verlassen den Kiez. Die wachsende Armut bleibt. Die KreuzbergerInnen empfinden sich als VerliererInnen der Einheit, nicht mit-, sondern gegeneinander.

Der Görlitzer Park ist leer und öde. Zwischen den Pflastersteinen sprießt spärlich Gras. Hinter der Mauer rollen leere Bierdosen. Der Wind treibt Papierfetzen die einsamen Wege entlang. Das, sagt Lutz Braun, war einmal eine Oase, die sich der Bürgersinn der KreuzbergerInnen geschaffen hatte. Lutz Braun ist zornig. „Der Park ist zum Ort der Katastrophen geworden. Er ist das Symbol für Gewalt und Kriminalität im Bezirk.“

Lutz Braun vom Berlin-Brandenburgischen Bund Freien Gewerbes sieht da, wo der Senat noch von Armut redet, „bereits das nackte Elend“. Der Vorsitzende des Selbsthilfeprojektes will aus Langzeitarbeitslosen und Obdachlosen Kleinunternehmer machen. Der Verein betreibt einen Campingplatz, bietet Gartenarbeiten und Fensterputzen an. Scherenschleifer sollen demnächst mit Fahrrädern unterwegs sein.

Kreuzberg war vor der Wende nicht nur ein Problemgebiet, sondern auch ein Renommierstadtteil für das weite Feld der Sozialarbeit. Und ein Muster an Bürgerbeteiligung. Auszeichnungen, Orden und Medaillen hat Kreuzberg bekommen, als es noch im Schatten der Mauer lag. Der Bezirk war, im Guten wie im Bösen, „eine absolute Besonderheit“, sagt Orlowski leicht wehmütig. Neben und unabhängig von „den klassischen politischen Strukturen“ hätten die BürgerInnen mitbestimmt und gestaltet: „Das war lokale Demokratie.“ Die Identifikation der BewohnerInnen mit ihrem Stadtteil war groß, quer durch die Gesamtbevölkerung. Zu dieser Zeit, Anfang der 80er Jahre, der Zeit der Hausbesetzungen, war Orlowski Bausenator. Reihenweise flogen damals Bauskandale auf, Miethäuser standen leer, 180 Häuser wurden besetzt. Er hat kräftig mitgemischt. Mitten im wildesten Geschehen hatte er einen kleinen Laden. Keine Drogerie, stellt er gerne richtig, sondern „bloß eine Parfümerie“.

BesetzerInnen und Bürgergruppen hatten gemeinsam Erfolg. Verrottete Altbauten wurden saniert, Schulen, Kitas, Wege, Grün und Fußgängerzonen machten aus Kreuzberg, dem Armenhaus West-Berlins, zwar kein gelecktes Nobelviertel, aber es entstand eine Versorgung „bis zum Sättigungsgrad“ für diejenigen, die es nötig hatten: „Das schuf damals Hoffnung.“ Das arme, aber lebendige Nischenquartier Kreuzberg habe damals „unter Laborbedingungen am Rande der Stadt“ gut funktioniert. Orlowski: „All das ist nun vorbei. Der Stadtteil ist gekippt. Nur arm sind wir immer noch.“ Jochen Siemer, Geschäftsführer des Stadtteil-Vereins SO36, sieht darin auch etwas Positives: „Vor der Mauer war Kreuzberg das Mekka. Jetzt ist es total out, ein Stadtteil wie jeder andere auch – und nicht länger der Nabel der Welt.“

Lutz Braun ist viel pessimistischer: „Wir bekommen die Slums.“ Jedenfalls, würde das, „was bei uns gerade anfängt, in allen anderen Städten der Welt so genannt werden“. Öffentliche Zuschüsse für die vielen Beratungsstellen sind gestrichen oder knapp geworden. Orlowski: „Das ist keine Sparflamme, das ist nur noch ein Glimmfaden.“ Aber unverwüstlich wie ein Schlachtroß hofft er trotz alledem: „Vielleicht kommt das ja wieder. Ich werde ausharren.“

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