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Wie sieht der Krieg aus?

Die Fotos aus dem Irak bleiben wieder abstrakt. Aber wann reden Bilder authentisch vom Krieg? Wenn man sie richtig interpretiert, meint  ■ Michael Rutschky

Nachts, vor dem Einschlafen, lese ich jetzt „Krieg und Friedehn“, den großen Roman, den der Graf Tolstoi 1868/69 über Napoleons Eroberung von Europa, die Invasion Rußlands und die Niederlage veröffentlich hat.

Tolstoi gibt seinen Kriegsschilderungen – von denen mir eine amerikanische ebenso wie eine österreichische Dame gestanden, sie hätten diese Seiten überblättert – stets dieselbe fatalistische, fast möchte man sagen: dekonstruktivistische Pointe. Die Teilnehmer an der Schlacht ebensowenig wie die Feldherren auf ihren Hügeln, die leibhaftigen Augenzeugen also, vermögen eine treffende Vorstellung von den Ereignissen zu entwickeln.

Leuchtet das bei der Soldaten-, auch der Offiziersperspektive, die Tolstoi in einer kunstvollen Montage aus Nahaufnahmen und Halbtotalen gibt, unmittelbar ein, so möchte man es zunächst für die Feldherren auf ihren Hügeln bestreiten, zu schweigen vom allerhöchsten Chef, dem Kaiser der Franzosen, der das alte Europa doch gerade dank seiner überlegenen Perspektive, als Weltgeist zu Pferde, bezwang.

Doch Tolstoi insistiert: „Vom Schlachtfeld kamen unaufhörlich Ordonnanzen zu Napoleon mit Meldungen von seinen Marschällen. Und alle diese Meldungen waren falsch. In der Hitze des Gefechts war es unmöglich, genau zu sagen, was in einem gewissen Augenblick vor sich ging. Außerdem konnten viele Adjudanten gar nicht bis zu dem wirklichen Kampfplatz vordringen, sie berichteten nur, was sie vom Hörensagen wußten. Und dann brauchte jeder Adjudant zwei oder drei Werst, um Napoleon zu erreichen, die Nachrichten, die sie überbrachten, waren also bereits durch die veränderten Umstände überholt.“

Daß Napoleon diese Schlacht von Borodino verliert, entscheidet sich nicht zweifelsfrei in ihr selbst, es wird durch die nachfolgenden Truppenbewegungen der Gegner, schließlich durch die Berichterstatter und Historiker festgelegt. Ohne eine Vorstellung vom Endergebnis freilich macht kein Einzelbild Sinn.

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Ja! die Napoleonischen Kriege! mögen Sie einwenden. Da war man noch auf Face-to-face-Kommunikation angewiesen, mündliche Berichte. Aber heutzutage sind die Kameramänner von Anfang an dabei – man erinnere sich an die Invasion von Somalia. Das Problem scheint doch eher, daß das Militär die Kameramänner in ihrer Bewegungsfreiheit einschränkt. Grundsätzlich gibt es authentische Bilder, Nahaufnahmen wie Totalen; daß wir sie nicht zu sehen bekommen, erklärt sich aus Zensurmaßnahmen.

Oder gehören Sie zur Baudrillard-Fraktion? Dieser französische Schnelldenker erklärte bekanntlich den gesamten zweiten Golfkrieg zu einem Videospiel, dem in der Wirklichkeit nichts entsprach – eine Position, die derjenigen Tolstois gar nicht so fernliegt. Die Entscheidung bringen weniger die leibhaftigen als die Interpretationskämpfe – bloß daß diesen Gedanken Baudrillards apokalyptische Phantasien über die Medien in der Gegenwart verdarben. Die Apokalypse faszinierte ihn weit gründlicher als der Golfkrieg. Die Medien bringen die Wirklichkeit spurlos zum Verschwinden: Dies sei das Kriegsergebnis, das jedem Einzelbild seinen Sinn verleiht.

Das Fernsehen gewann den zweiten Golfkrieg – wie gesagt, eine derjenigen Tolstois gar nicht so fernliegende Position, bloß daß bei Tolstoi „Das Fernsehen“ noch „Die Historie“ heißt.

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Keine Frage, die Bilder – ob Foto oder TV –, die wir von den neuerlichen Angriffen der Amerikaner auf den Irak respektive Saddams Angriffe auf Kurdistan zu sehen bekamen, sind bemerkenswert nichtssagend.

Irgendwelche Kampfflugzeuge, die irgendwo abheben; irgendwelche Archivbilder unwiderstehlich dahinfliegender Marschflugkörper. Irgendwelche arabischen Männer, die das Victory-Zeichen sehen lassen, über dessen inflationäre Verbreitung seit Churchill ich gern mal eine gründliche Untersuchung läse; der bräsige Saddam, „der wird aber auch immer fetter“, vom TV abfotografiert, in dem ich ihn auch bewegt gesehen habe, wie er Unverständliches bellte, das mir eine verbindliche Off-Stimme dahingehend übersetzte, daß die irakische Luftwaffe die Flugverbote selbstverständlich heroisch ignorieren werde.

Eine gewisse Karriere traue ich einzig dem Foto Clintons zu, wie er, helle Hose, dunkles Sakko, offenes Hemd, mit gesenktem Kopf über den Rasen geht. Ein Ausdruck von unkontrollierter Melancholie? Oder muß er in der Dunkelheit auf seine Schritte achtgeben?

Dabei liest man das Foto als gelungenes Porträt des amerikanischen Präsidenten in einer gespannten Situation. Welchen Namen die Situation trägt, ist weniger wichtig.

Schon Tolstois Einzelporträts der Protagonisten – Napoleon, der Zar, der russische General Kutusow – sind exquisit, wobei eine informelle Situation weit besser funktioniert als der grandiose Auftritt vor Publikum. Clintons Gang über den Rasen gegen Saddams Rede vor der Fernsehkamera.

Wenn Ihnen die neuerlichen Bilder von der neuerlichen Auseinandersetzung zwischen den USA und dem Irak also neuerlich als Inbegriff von Manipulation oder auch als Nichtberichterstattung erscheinen, dann sollten Sie Ihr Verständnis technischer Bilder – Foto, Film oder TV – überprüfen.

Auch diese Bilder müssen gelesen werden, wozu in der Regel die Unterschrift eine Anleitung gibt.

Die Bilder funktionieren nicht als Zeugnisse einer leibhaftigen, authentischen Wirklichkeit, die aller Lektüre vorgelagert ist und auf die der Graf Tolstoi sich noch nicht berufen konnte, weil halt die Napoleonischen Kriege – anders als Leo Tolstoi, von dem wir viele eindrucksvolle Fotos haben – noch nicht fotografiert werden konnten.

Gewiß unterhält die Fotografie zum Leibhaftigen eine engere Beziehung als Zeichenkunst und Malerei; aber was das Bild bedeutet, wird durch Kommunikation entschieden, die mit der Bildunterschrift, dem Off-Kommentar einsetzt. Kein substantieller Fortschritt gegenüber Tolstoi. Michael Rutschky

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