piwik no script img

Ein materialistischer Himmelsbote

In Jostein Gaarders neuem Roman „Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort“ entdeckt ein krankes kleines Mädchen mit Hilfe eines Engels die letzten Dinge: Leben, Tod, Sex, Kitzeln, das Universum und den ganzen Rest  ■ Von Kolja Mensing

Astrid Lindgren hat wohl das lustigste Buch über einen Engel geschrieben. Ihr Engel wohnt in Stockholm auf einem Dach, ist klein und dick und hat statt Flügeln einen motorisierten Propeller auf dem Rücken. Und er trägt karierte Hemden. Nicht gerade das, was sich ein Scholastiker unter einer anständigen Lichtgestalt vorstellt. Anstatt frohe Kunde zu tun, läßt Lindgrens Himmelsbote Spielzeugdampfmaschinen explodieren und stopft sich mit Fleischklößchen voll. „Karlsson vom Dach“ ist eher ein Engel von der Sorte, vor der die Eltern uns gewarnt haben.

Auch Jostein Gaarders neuer Roman „Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort“ ist ein Buch mit einem Engel als Hauptperson. Er heißt Ariel und hockt genau wie Karlsson plötzlich auf dem Fensterbrett eines einsamen Kindes. Allerdings ist er eine etwas elegantere Erscheinung: kein motorisierter Poltergeist, sondern ein bibelfester Luftgeist, der zur Begrüßung – am ersten Weihnachtstag – gleich ein fröhliches „Fürchte dich nicht“ verkündet. Flügel oder gar blonde Locken hat er zwar nicht zu bieten. Dafür kann Ariel aber doch immerhin durch Wände gehen und sich unsichtbar machen.

Engel haben bekanntlich Aufgaben. Jostein Gaarder hat für seinen Engel eine besonders schwere ausgesucht. Ariel ist zu Gast bei Cecilie Skotbus, einem neun- oder zehnjährigen Mädchen, um ihr Gesellschaft zu leisten. Cecilie muß den ganzen Tag im Bett liegen und darf selbst am Heiligabend nur für einige Stunden in der Weihnachtsstube auf dem Sofa liegen, denn sie ist ziemlich krank. So krank, daß selbst die legendäre Karlsson-Medizin aus sauren Drops, Himbeerbonbons und Schokolade nicht helfen würde. Tapfer liegt sie in ihrem Zimmer, erträgt die Spritzen, die sie jeden Tag bekommt, und erklärt ihren bedrückten Eltern, daß sie bestimmt bald wieder gesund werde. Nur manchmal, wenn sie allein ist, zerdrückt sie ein paar Tränen.

Cecilie hat Fragen wie die meisten Kinder – und vermutlich wie die meisten Erwachsenen. Sie möchte etwa wissen, wie Gott denn nun wirklich aussieht. Sie fragt sich, was es heißt, geboren zu werden, und warum die Menschen irgendwann wieder aus der Welt verschwinden müssen. Was es mit dieser Welt auf sich hat, die sich fortwährend verändert.

Das sind Fragen, für die ein Engel naturgemäß zuständig ist, und Ariel versucht, brav zu antworten. Nur manchmal muß er passen, denn es gibt Dinge, die selbst Engeln peinlich sind. Zum Beispiel als er mit Cecilie über das Erwachsenwerden und die Unterschiede zwischen einem kleinen Mädchen und einer erwachsenen Frau redet und Cecilie nachbohrt: „Sprecht ihr wirklich im Himmel über solche Fragen?“ Ariel nickt verlegen. Er schaut sich im Zimmer um, dann sagt er: „Aber wir versuchen, es nicht zu tun, wenn Gott in der Nähe ist.“

Um es vorwegzunehmen: Die Befürchtungen, die die Ankündigung eines „neuen Gaarders“ ausgelöst hatten, sind unbegründet: „Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort“ sind nicht die neuesten Nachrichten aus Sofies Welt.

Gaarders Bestseller, der seit 1994 das Standard-Buchpräsent für sogenannte aufgeweckte Kinder und philosophieverliebte Erwachsene ist, war einfach zuviel des Guten gewesen. Zuviel Lehrmeisterei, zuviel erkenntnistheoretisches Gedöns, zuviel platonischer Dialog, der immer wieder zum altväterlichen Monolog wurde. Gaarder gab das später auch umumwunden zu. In einem Interview zu „Sofies Welt“ erklärte er: „Ich hatte keine schriftstellerischen Ambitionen, sondern ausschließlich pädagogische. Das merkt man dem Buch an.“

„Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort“ – der Titel ist ein Zitat aus dem Korintherbrief – ist 1993 in Norwegen veröffentlicht worden, ein Jahr nach „Sofies Welt“. Gaarder hat sich sichtlich bemüht, den Lehrer im Schriftsteller zu verdecken und dem Abriß der Philosophiegeschichte in „Sofies Welt“ nun keinen Abriß theologischer Problemstellungen folgen zu lassen.

Es ist ihm gelungen, wenn auch an manchen Stellen noch der Bildungsbeauftragte durchscheint. Offenbar sitzt ein hartnäckiger Dämon auf Gaarders Schulter, der ihm Kernsätze der abendländischen Kultur in die Feder diktiert: „Über das, was wir nicht verstehehen, müssen wir eben schweigen.“ So bekommt – nicht ganz sinngemäß – Wittgenstein seinen Auftritt. Später heißt es dann: „Irgendwer hat behauptet, die Welt sei ein Theater.“

Hinter dem koketten „irgendwer“ verbergen sich bei Gaarder aber eben gerade keine Irgendwers, sondern immer Shakespeare, Platon und andere Giganten aus dem humanistischen Kanon.

Ariel ist ein sympathischer Gesprächspartner in Sachen Gott und Schöpfung, so daß man ihm seinen Shakespeare-Namen gerne verzeiht. Außerdem ist er gar kein so willenloser und versklavter Geselle wie sein Namenspartron aus dem „Sturm“. Ariel ist ein Engel mit eigener Meinung, der auch gelegentlich Kritik an der Schöpfung übt. Neugierig ist er obendrein, und darum einigt er sich mit Cecilie darauf, daß sie ihm im Austausch gegen einige metaphysische Geheimnisse vom Leben der Menschen erzählt: Ob es kitzelt, wenn man jemanden berührt; was „schmecken“ eigentlich genau ist; wie ein Gefühl sich anfühlt. Gaarder gelingen hier gleichberechtigte Dialoge – der materialistische Engel und das kleine Mädchen haben sich gegenseitig einiges über das Leben zu sagen und zu fragen. Sie lernen voneinander.

Cecilie muß sich ganz schön anstrengen, um die Neugier ihres Besuchers zu befriedigen. Sie ist zwar, seit sie nur noch im Bett liegt, eine eifrige Leserin der Zeitschrift Illustrierte Wissenschaft und kennt sich aus mit Genen und Asteroiden. Die Unterhaltungen mit Ariel, der aus dem Nähkästchen der Schöpfung plaudert oder von der Sphärenmusik erzählt, wecken jedoch Fragen in ihr, die tiefer gehen als Moleküle oder Kristallstrukturen.

Sie notiert in ihrem Tagebuch: „(In der Schöpfung) kann alles ganz leicht kaputtgehen. Sogar ein Berg wird langsam abgeschliffen und schließlich zu Erde und Sand. Alles in der Natur ist wie ein langsamer Brand. Die ganze Schöpfung scheint gewissermaßen im Moos zu schwelen. Nicht immer begreift man voll und ganz das, was man erschaffen hat. Ich kann zum Beispiel etwas auf ein Blatt Papier zeichnen. Das heißt aber nicht, daß ich verstehe, was es für ein Gefühl ist, von mir gezeichnet worden zu sein. Was ich zeichne, ist ja nicht lebendig. Und das ist doch gerade so seltsam: daß ich lebendig bin!“

Die theologischen Dispute zwischen Ariel und Cecilie sind zwar engelsleicht und witzig, aber Jostein Gaarders Roman ist dennoch ein trauriges Buch. Die weihnachtlichen Unterhaltungen mit dem Engel kreisen um ein steinschweres Thema: den Tod. Cecilie möchte in das Geheimnis des Lebens und der Schöpfung hineinschauen.

Aber während sie Licht in das „dunkle Wort“ bringt und einige Blicke auf die andere Seite des Spiegels wirft, kommt sie nicht nur dem Leben, sondern auch dem Sterben näher. Gemeinsam mit dem Himmelsboten auf ihrer Fensterbank sucht sie nach Metaphern für das Unverständliche: Trotz der kindlichen Poesie, die Gaarder an diesen Stellen der Theodizee entgegensetzt, bleibt dem Common sense eines naseweisen Mädchens noch genug Raum.

Cecilie spürt Ungereimtheiten im Leben auf, so wie Gott (oder wer auch immer es gewesen sein mag) es eingerichtet hat. Sie sucht nach hellen Worten für das unheimliche Geheimnis, daß ein Mensch irgendwann wie eine geplatzte Seifenblase einfach in das Nichts übergeht, daß er reißt wie „eine Silberschnur mit glatten Perlen, die durch das Land rollen und zu den Muschelmüttern auf den Meeresgrund zurückkehren“.

Jostein Gaarder: „Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort“. Roman. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Carl Hanser Verlag, 1996, 152 Seiten, geb., 29,80 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen