: Hilfe bei der Realitätssuche
■ Zum Zwischenruf gegen Bundespräsident Herzog
Bislang galt die Behauptung, nicht man selbst sei der Urheber der Schandtat X, sondern ein Provokateur, als Spezialität der Realsozialisten. Doch das ist ein Vorurteil, das wir nach der jüngsten Äußerung des Vertriebenensprechers Stratmann berichtigen müssen. Nie und nimmer habe, so Stratmann, einer aus seinen Reihen den Bundespräsidenten Roman Herzog bei dessen Rede am „Tag der Heimat“ in Berlin als „Vaterlandsverräter“ beschimpft. Das müsse ein Rechts-, eher noch ein Linksradikaler gewesen sein, der den so respektablen „Bund der Vertriebenen“ in Mißkredit habe bringen wollen.
Merkwürdig nur, daß Herzog für seine geharnischte Erwiderung keine allzu große Zustimmung erntete, während Eberhard Diepgens flott-patriotischen Sprüche von nicht endenwollendem Beifall umbrandet waren. Könnte es nicht doch sein, daß da jemand einer Stimmung Ausdruck gab, die zwar öffentlich zu äußern nicht schicklich ist, der aber im vertrauten Kreis um so ungehemmter nachgegeben wird?
Jetzt verlautete seitens eines regierungsoffiziellen Wichtigtuers, von einer Strafanzeige gegen den Zwischenrufer werde abgesehen. Mein Gottchen, leben wir noch zu Friedrich Eberts Zeiten? Muß jedem Schwachkopf das Maximum an Publizität verschafft werden? Nicht die Justiz ist zu bemühen, sondern der „Bund der Vertriebenen“. Mit einer förmlichen Entschuldigung oder mit einer Anzeige gegen Unbekannt ist es nicht getan. Sondern damit, daß die Organisation beim Umdenken, bei der Einübung der Realität den Landsmannschaften ein paar Hilfestellungen gibt.
Das aber ist den Berufsvertriebenen zu schmerzlich. Da heißt es, lieber Kreide fressen. Auf den Beitritt Tschechiens und Polens zur EU und damit auf den freien Kapitalverkehr warten. Und dann geht's los mit der Übernahme deutschen Bodens fürn Appel und 'n Ei. Es lohnt sich, Roman Herzogs Rede vor den Vertriebenen zu lesen. Ob das unseren gußeisernen Linken nun paßt oder nicht: Was dort steht, ist eindeutig in seiner Abgrenzung vom Nationalismus und pragmatisch klug in der Bestimmung dessen, was wir im Verhältnis zu Ostmitteleuropa tun können. Und es ist einfühlsam. Nicht zu glauben, aber so etwas gibt es tatsächlich an der Staatsspitze. Christian Semler
Bericht Seite 4
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