: Lebende Wände mit Ohren und Händen
■ Zur Saisoneröffnung bereinigt: Hölszkys „Die Wände“ / Dennoch Buhrufe und Begeisterung in Oldenburgs Oper
Wurden bei den Wiener Festwochen 1995 „Die Wände“ von Adriana Hölszky unter heftigen Tumulten uraufgeführt und nach viermaligem Spiel vom Programm abgesetzt, so blieb bei der deutschen Erstaufführung am Freitagabend in Oldenburg der befürchtete Skandal aus. Die Aufführung stieß dennoch vorwiegend auf Unverständnis beim Publikum, das erschöpft war von den Anstrengungen, jeden Aspekt der Klangereignisse und der Simultanszenen dieser Aufführung mitzuverfolgen.
Weg vom Guckkastensystem des traditionellen Musiktheaters wolle sie, sagt Adriana Hölszky, die Zuhörer ringsum am Klang teilhaben lassen, und „ihnen den Boden unter den Füßen wegziehen“, denn „nur so fange man an, nachzudenken“, und das zumindest hat sie erreicht.
Mit ihrer klanglichen Umsetzung des Genet-Märchenspiels vom Fremdsein, der Liebe und dem Übergang ins Totenreich brachte sie für so manchen den Boden des Staatstheaters Oldenburg ins Wanken. Im Mittelpunkt des in Algerien spielenden Stückes stehen zwei Ausgegrenzte, Leila und Said. Leila wird von Said nicht geachtet, von Saids Mutter schikaniert. Es ist eine arme Familie im Abseits, um die sich das Klageweib Kadidja Ommou, die unbeugsame Rebellenanführerin, und selbstbewußte Huren scharen.
Man sah und hörte Musiktheater in „Trichterform“ mit einem 32stimmigen Chor als „Passepartout“ für die Handlung: Sie verkörperten „Wände“ mit Ohren, Händen und Stimmen, die als Klangträger knarrten, flüsterten, schnalzten, klatschten, „Wände“, die saßen und fielen. 18 SängerInnen auf der Bühne, 13 Instrumentalisten im Orchestergraben, 9 Schlagzeuge auf den Rängen, 8 Lautsprecher und ein Zuspielband schufen die Vorraussetzungen für die Herstellung verschiedener klanglicher Ebenen.
Durch das Aufeinandertreffen von Opernensemble, Elektronik und traditionellen Orchesterinstrumenten, unter dem Aspekt des absichtsvoll Irritierenden, Provozierenden, spürt Hölsky „Klänge aus dem Leben“ auf und hält sie in permanenter Beweglichkeit. Durch holographische Raumauffächerung knüpft sie an Bewährtes der avantgardistischen Musik an und erzielt so das Nicht-Faßbare, nicht zur Ruhe Kommende.
Adriana Hölszky schuf zusammen mit ihrem Librettisten Thomas Körner aus Genets fünfstündigem Schauspiel eine eineinhalbstündige, wie sie sagt, „Weiterentwicklung des Musiktheaters“, dessen 16 Bilder vom Regisseur Stephan Mettin und dem Ausstatter Joachim Grieps szenisch umgesetzt, von Wolfgang Ott, als dem Mann mit dem „Kabel im Ohr“, als Dirigent geleitet wurden.
Sängerdarsteller und Chorsolisten hatten vokal und darstellerisch schwierigste Aufgaben zu erfüllen. Mehrschichtigkeiten in Phonetik und Semantik, Brechung und Spiegelung von Sprache und Klang verstärkten sich mit zunehmender Dramatik. Höhepunkte wurden die simultanen Szenen.
Am Anfang war alles noch recht übersichtlich in Mettins und Grieps Regiekonzept - Säcke mit Kork lagen auf dem Boden, im Hintergrund ein überdimensionaler Stuhl, man ahnte - ein Symbol für die französische Kolonialherrschaft. Arme Familie, Huren, Freier, Ausbeuter und Ausgebeutete erlebten alle Höhen und Tiefen ihres Daseins. Im Laufe des Stücks verdichtete sich die Handlung, neue Ebenen dramaturgischer und musikalischer Art kamen dazu, die Apokalypse naht. Stephan Mettin ist nicht Hans Neuenfels, der die Wiener Uraufführung inszenierte, bei ihm „landet die Oper“ nicht „in der Gosse“, er ließ die Darsteller so vulgär wie nötig, so dezent wie möglich agieren. Die sexuellen Anspielungen der Hurenszenen, die in Wien für den Skandal sorgten, blieben in Oldenburg ganz brav.
Das von Joachim Griep auf Reduktion und Abstraktion gezielte Bühnenbild lenkte nicht unnötig vom Geschehen ab. Daß die jeweils Agierenden, ihrer jeweiligen Zugehörigkeit entsprechend, in einheitliche Farben gekleidet waren, trug ein wenig zur Transparenz der Handlung bei.
Großer Einsatz und Engagement ging von allen Instrumentalisten und Sängerdarstellern aus, allen voran Marcia Parks, die als Muttergestalt eine hinreißend kraftvolle, archaische Frauengestalt verkörperte.
Die Publikumsreaktionen hielten sich die Waage. Einem einzelnen „Ihr seid ja verrückt“ und etlichen „Buhs“ stand der Achtungsapplaus für die gewaltige Leistung des gesamten Ensembles zur Eröff ung der Spielzeit entgegen.
Wie auch immer die Resonanz auf diese Erstaufführung ausfiel, man kann den Mut des gesamten Ensembles nicht genug würdigen, dieses schwierige neue Werk so konsequent umgesetzt zu haben.
Vielleicht kann die Besucherstatistik des Staatstheaters Oldenburg von diesem Musikereignis profitieren. Es scheint für jeden, der nicht ständig mit Musik des ausgehenden 20. Jahrhunderts umgeht, zwingend notwendig, dieses Stück noch einmal zu hören, um wirklich alle Klangereignisse aufnehmen zu können.
Dagmar Zurek.
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