Jeder Mensch ist sein eigener Professor

Die Kunst, einen explosiven Lebenslauf statt einer blitzsauberen Karriere zu hinterlassen: Der fluxus-bewegte „Beck“-Opa und „Dada-Wikinger“ Al Hansen wird im Kölnischen Stadtmuseum mit einer Retrospektive gewürdigt  ■ Von Holger Liebs

Es passierte 1968. Andy Warhol lag angeschossen am Boden der „Factory“, in seinen New Yorker Arbeitsräumen. Die „Radikalfeministin“ Valerie Solanas hatte eine Waffe auf ihn gerichtet und mehrmals abgedrückt. Al Hansen betrat die „Factory“ nur kurz danach. Später notierte er, Warhols Blut habe sich wie eine auslaufende „Campbell's Tomato Soup“ im Raum verteilt. Wie Hansen die Situation nach dem Attentat meisterte, dokumentiert ein Satz, den sich der schwerverletzte Warhol abpreßte: „Al dont' make me laugh. It hurts so bad.“

Aus Anekdoten wie dieser fügt sich die Lebenscollage des im letzten Jahr verstorbenen Fluxus- Künstlers Al Hansen zusammen. Meist stammen Erzählfragmente wie die Story über Warhol, dem er, freiwillig oder nicht, das angegriffene Zwerchfell kitzelte, von Hansen selbst – aus seinem rhapsodischem Talent läßt sich eine Oral history der gesamten Happening- und Fluxus-Bewegung seit den fünfziger Jahren kondensieren: eine Geschichte, die tatsächlich im „Fluß“ geblieben ist.

Doch nicht nur als Dabeigewesener, der in New York bei John Cage studiert hatte, mit Allan Kaprow befreundet war, Yoko Ono, Claes Oldenburg, Joseph Beuys und Roy Lichtenstein zu seinen Bekannten zählte; nicht nur als Nomade, der immer und überall zugleich war, ging Hansen in die Kunstgeschichte ein. Auch seine Collagen, Fotoautomaten-Selbstporträts, die zahlreichen Performances und Happenings, vor allem aber seine über Jahrzehnte entstandene „Venus“-Serie sind nun museumsreif – und das trotz Hansens außerordentlicher Begabung, aus seinem Leben ein brodelndes Chaos zu machen. Zum Glück hat der Künstler nicht alle seine Kunstwerke verloren, viel zu billig verkauft oder sonstwie dem musealen Zugriff entzogen. Im Kölner Stadtmuseum ist jetzt, knapp ein Jahr nach der ersten Retrospektive in Rosenheim, eine große Anzahl seiner Werke zu sehen.

Hansens Lebenspassion, seine Bewunderung galt der „Venus“, als Umschreibung für „Mädchen“, „Göttin“, „Erdmutter“, „Hure“ oder „Walküre“. Er fertigte Dutzende von Collagen mit dem gleichen Motiv an, einer fülligen, symbolhaft vereinfachten Frauengestalt mit ausgebreiteten Armen. Die Arbeiten tragen Namen wie „Kohl Venus von Bochum“, „Miss Chicago“ oder „Beuys Breast Venus“. Als Modell diente ihm der Fund einer steinzeitlichen Fruchtbarkeitsgöttin, der berühmten „Venus von Willendorf“.

Die Venus war Hansens Wand. Wieso Wand? Dazu gibt es – natürlich – eine Anekdote. John Cage hat sie Hansen übermittelt. Cage hatte in Paris beim Zwölftonkomponisten Arnold Schoenberg studiert, sich aber gleichermaßen für Musik und Architektur interessiert, bis Schoenberg ihm eines Tages riet, sich für ein Gebiet zu entscheiden: „Suchen Sie sich eine Wand aus, gegen die Sie mit Ihrem Kopf anrennen können. Auch wenn keine Risse in der Wand auftauchen – wenigstens ist es Ihre eigene Wand.“ Hansen blieb beständig auf der Suche nach der „Göttin“, und collagiert hat er sie mit allem, was er auf der Straße finden konnte, ganz wie sein Vorbild, der Dadaist Kurt Schwitters.

Botschaften auf Schokoladenpapier

In den Sechzigern gab das „Hershey“-Schokoladenpapier das Material seiner Collagen ab. Das mokkabraune Papier mit den silbernen Buchstaben wurde für Hansen das, was für Warhol „Marilyn“ oder die „Campbell's Tomato Soup“ gewesen war: der Rohstoff seiner Kunst, ein immer verfügbares, massenproduziertes Produkt. Aus dem Namenszug der Schokofirma ließ sich (fast) alles formen, was sich sagen läßt: „She“, „He“, „Hey“, „Yes“, „See“ und so weiter. Ganz in der Tradition des Dadaismus integrierte Hansen Wortfetzen in seine Collagen als subtile Botschaften oder als bildgewordenen Lärm; in New York arbeitete er meist in Bars, Cafés oder auf der Straße und fertigte „Hershey“-Venusse auf Zuruf an. Kommunikator und Gossip-Instanz, die er war, diente ihm die ganze Stadt als Atelier. Er hieß auch „der Plastiktütenmann“. Später formte er vor allem aus Kippenresten seine Venusfiguren.

Den Rhapsoden Al Hansen drängte es immer nach einer Akademieprofessur, wo er sein Wissen weitergeben konnte. Verschiedene Gastverträge wurden geschlossen, platzten aber meist schnell aufgrund seiner Kompromißlosigkeit. Wer wollte schon einen Dozenten, der den Winter über in der U-Bahn wohnte, sich mal wie ein Penner, mal wie ein Bankier kleidete und seine Performances oft in regelloser, wilder Anarchie enden ließ? In Köln, wo er 1970 in Harald Szeemanns berühmter Ausstellung „happening und fluxus“ erstmals ausgestellt hatte und sich seit 1982 ständig aufhielt, gründete Hansen selbst eine Lehrinstitution: die „Ultimate Academy“, wo „jeder sein eigener Professor“ werden konnte. Hansen wurde nicht wie der andere große Kölner Fluxus-Künstler, Wolf Vostell, zum Star, sondern bastelte lieber an den Werdegängen anderer.

Hansen verdingte sich als Wachmann, war begeisterter Punkfan, gab ein Pornomagazin (Kiss) heraus und drehte mit seiner Tochter Bibbe einen Aufklärungsfilm über Kindesmißbrauch für das L.A.-Justizministerium. Das alles dokumentiert neben der Kölner Ausstellung ein hervorragender Katalog, der eine umfassende Fluxus-Bibliographie und Grußadressen von Hansens zahlreichen Künstler-FreundInnen versammelt. Die schlichte Schreibmaschinentypographie und der Pappeinband kommen wie ein poveres Fluxus-Layout daher. Zur Vernissage ließ es Popstar Beck, ein Enkel Hansens, sich nicht nehmen, „unplugged“ ein paar Songs zu spielen (Bibbe Hansen, seine Mutter, soll nach der Geburt ausgerufen haben: „I want a Beck's!“).

„Life as Art. Art as a way of Life“, notierte Hansen 1972. Eine seiner letzten Performances fand im April 1995 in der Berliner Galerie Wewerka statt: „Elegy for the Fluxus Dead“. Hansen bandagierte sich den Kopf, rief die Namen verstorbener Fluxus-Künstler aus und fragte, wer wohl der nächste sei. Zwei Monate später war er tot.

„Al Hansen – An Introspective“, bis 20. Oktober, Kölnisches Stadtmuseum, Köln. Katalog: 88 DM