■ Ein 6jähriges Mädchen wird umgebracht. Ein 16jähriger aus dem Kinderdorf Saar könnte der Täter sein
: "Ich hab' sie verpackt wie einen Bonbon"

Es ist ein heißer Tag, so ein Tag, an dem sich kein Kind einsperren läßt. „Tschüs, bis morgen!“ ruft Katharina, flinke 123 Zentimenter groß und gewitzte 6 Jahre alt. „Tschüs, bis morgen!“ Ihr üblicher Spaß beim Abschied. In zwei Stunden soll die Kleine wieder daheim sein. Eigentlich ist sie immer pünktlich.

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Es ist wirklich heiß, an diesem Mittwoch, dem 7. August. Im Schatten hinter dem Gartenschuppen kniet Daniel. Dachbalken liegen herum, eine Säge, Nägel. Mit drei, vier kräftigen Schlägen treibt der 16jährige den letzten Stift ins Holz. Er richtet sich auf und prüft sein Werk. Vor ihm liegt ein großes Kreuz.

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Gegen 4 Uhr nachmittags geht Katharina spielen. Zweieinhalb Stunden später ist sie noch nicht wieder zurück. Ihre Stiefschwester Manuela fängt an sie zu suchen.

Die Mädchen wohnen auf dem Seitert, einer Siedlung auf den Hügeln der saarländischen Kleinstadt Merzig-Hilbringen. Nur wenige hundert Meter von ihrem Haus entfernt beginnt das Gelände des „SOS-Kinderdorfs Saar“.

Die längste Rutsche, die höchste Schaukel, eine riesige Kletterspinne – nirgendwo läßt es sich besser toben als auf dem Spielplatz des Dorfes. Alle Kinder vom Seitert zieht es dorthin. Auch Katharina. Außerdem hat sie einen Freund im Dorf. Eigentlich darf sie nicht mehr mit ihm spielen...

„Hast du Katharina gesehen?“ Auf ihrem Fahrrad wetzt die 13jährige Manuela durch die Gegend, fragt und ruft. Das Kinderdorf ist seltsam leer. Die meisten Mütter und Pfleglinge sind in den Ferien. Nur einige größere Jungs sind geblieben. „Ich weiß was“, sagt Daniel, „ich hab' sie gesehen.“ Vage deutet er auf den Wald, der das Dorf halb umschließt. „Sie ist da rübergegangen.“

Der Wald. Vier Hektar Büsche und Bäume, mannshoher Farn, zauseliges Gestrüpp und rauhes Unterholz. Hier kann sich ein kleines Mädchen vierhundertmal verstecken. Eigentlich fürchtet sich Katharina alleine im Wald...

Mittwoch, abends um halbacht

Katharinas Pflegefamilie läßt alles stehen und liegen. Der Vater sucht mit dem Motorroller auf den breiten Waldwegen, Manuela und eine Freundin erforschen die Trampelpfade, die Mutter stöbert mit den zwei Söhnen durchs Gebüsch. Am Rande des Dorfs steht der blonde Daniel und schaut. Und schaut.

Mittwoch, kurz vor 9 Uhr abends

Die Pflegeeltern rufen die Polizei. Vermißt: Katharina S., 6 Jahre, dunkle Haare, Fransenschnitt, Brille; das Kind trägt eine fliederfarbene Radlerhose, rosa T-Shirt, Lacksandalen. Mit Streifenwagen und Suchhunden rücken die Fahnder an. Sie konzentrieren sich zunächst auf das Waldstück, das Daniel ihnen zeigt. „Da drüben, hinter der Kletterspinne“, wiederholt der Junge. Dann wendet er sich abrupt ab, seine Blicke fliegen, er schnappt sich einen Ast vom Boden und zerschmettert ihn krachend an einem Baum.

Noch bevor es ganz dunkel wird, durchkämmen Beamte des Landeskriminalamts auch das Kinderdorf. „Haus Friede“, „Haus Sport“, „Haus Taube“ – das Dutzend Gebäude, die Gärten und Schuppen. Hinter „Haus Tanne“ entdecken die Polizisten das Kreuz. An die drei Meter hoch, lehnt es an einer Hütte. Anstelle der Dornenkrone umschlingt ein Kranz aus Stacheldraht das ungehobelte Holz.

Daniel lebt in Haus Tanne. Im Schulgottesdienst betet er besonders schön, hin und wieder zimmert er ein Kreuz. Seine Hände sind so breit und kräftig, Malocherhände an einem langen, ungelenken Jungenkörper. Ständig bosseln sie an irgend etwas herum. „Der Daniel ist ein richtiger Schaffer“, erzählen die Leute vom Seitert halb anerkennend, halb spöttisch.

Wo Bauarbeiter werkeln, ist Daniel dabei, hantiert mit Brettern und Nägeln, schleppt Latten und Ziegel; tief im Gebüsch errichtet er verborgene Unterstände, grob zusammengehauene Verschläge, mit Farn und Kraut gedeckt. Er hämmert, er klopft, er sägt – rastlos in seiner körperlichen Energie und dem Drang, etwas Greifbares zu schaffen. Einmal hat er beim Sportplatz des Kinderdorfs ein riesiges Loch geschippt, da wollte er ein Schwimmbecken anlegen. Ein so auffälliges Kreuz hat er noch nie gebaut.

Mittwoch, 7. August, gegen Mitternacht

Die Polizei bricht die Suche ab. Die Familie macht weiter, noch ein, zwei Stunden, es ist stockfinster. Katharina hat Angst im Dunkeln. Als sie vor acht Monaten in Pflege kam, war ihr Schlaf leicht und flüchtig. Sie lag im Bett, den Rücken an die Wand gepreßt, wachte auf und begann zu wimmern. Nie hat sie jemand laut weinen gehört.

Sie weinte auch nicht, als ihre Mutter sie im vergangenen Dezember beim Jugendamt ablieferte. Kurz vor Weihnachten. Sie wäre aus der Wohnung geflogen, sagte die Frau, und könnte ihre Tochter jetzt nicht gebrauchen. Es war bereits das zweite Mal, daß sie das Mädchen abschob. Mit drei Jahren hatte sie Katharina schon einmal in Pflege gegeben, doch nach zwölf Monaten zurückgeholt. Ein Jahr lebte das Kind dann mit der Mutter und deren Freund, bis es erneut lästig wurde. Am 21. Dezember 1995 hat das Jugendamt Katharina zu Familie I. auf den Seitert gebracht. Eigentlich hat sie hier ein neues Zuhause gefunden...

Donnerstag, 8. August, morgens

Bei Anbruch des Tages durchsucht die Familie weiter den Wald. Vierhundert Verstecke für ein kleines Mädchen...

Um 10 Uhr beginnt ein Großeinsatz der Polizei. Hundert saarländische und rheinland-pfälzische Beamte schwärmen aus. Vom Hubschrauber fotografiert eine Kamera das Gelände und zerlegt es in kleine Suchquadrate. Der halbe Seitert ist auf den Beinen. Und wieder steht Daniel am Rande des Kinderdorfs, die Hände auf dem Rücken verschränkt, und schaut.

Er streift ständig draußen herum, fast immer allein. Stundenlang. Noch spätabends hört man seine Kinderdorfmutter nach ihm rufen. Selbst bei Regen und klammer Kälte stapft er in Gummistiefeln durchs Gehölz oder saust mit seinem knallrot gestrichenen Fahrrad die asphaltierten Wege entlang. „Tatütata!“ brüllt er dann übermütig, daß die ganze Siedlung zusammenzuckt. Daniel spielt gerne Feuerwehr.

Er lebte schon als Säugling im Kinderdorf – anders als alle anderen Zöglinge. Seine leibliche Mutter war jung und heillos überfordert, als er zur Welt kam. Und weil sie selbst im Kinderdorf groß geworden war, gab sie ihren Sohn dort in Pflege. In die Obhut ihrer eigenen Kinderdorfmutter. Daniel ist im Grunde bei seiner Oma aufgewachsen.

Donnerstag, später Vormittag

Das Terrain rund um den Sportplatz, an dessen Rande die Kletterspinne steht, ist abgesucht. Kein Zeichen von Katharina. Wieso, fragt sich eine Bewohnerin des Seitert irritiert, wieso hat Daniel das Mädchen bei der Kletterspinne beobachtet? Der Sportplatz liegt am Fuß eines Hügels. Das Areal ist von dort, wo der Junge gestanden haben will, nicht einzusehen. Eigentlich hätte er Katharina gar nicht erspähen können...

Katharina, die seit Weihnachten in ihrer Pflegefamilie herumwieselt wie ein kleiner Irrwisch. Die nie alleine sein will und ständig Wichtiges zu palavern hat. Immer auf dem Quivive, immer darauf aus, beachtet zu werden. Gegenüber Männern zeigt sie sich mißtrauisch und verdruckst, doch an ihrer Pflegemutter hängt sie wie eine Klette: auf deren Schoß hocken, den Kopf an ihrer Brust reiben, fast in sie hineinkriechen – wie ein ganz kleines Mädchen.

Wenn Katharina nicht bekommt, was sie will, stampft sie mit den Füßen, schlägt etwas kaputt, quält sich. Reibt ihre Augen, bis sie blutunterlaufen und entzündet sind, oder kratzt sich die Haut um den Mund rot und rauh.

Sie hat ihre alte, abgeschabte Puppe mit in die Pflege gebracht. Manchmal hätschelt sie ihr Baby, kost und küßt es – plötzlich packt sie es wild am Arm, knallt es in die Ecke und schreit: „Du kriegst nichts zu essen, und morgen kommst du ins Heim!“ Wie oft ist es ihr selbst so ergangen?

Anfangs ißt sie nichts als Rotkraut, Eier, Pommes frites und Bratwurst. Bei hellen, cremigen Suppen schaudert sie vor Ekel. Kaum hat sie einen Löffel probiert, laufen ihr Tränen über das Gesicht, sie würgt und spuckt. „Ich hab' so etwas schon mal im Mund gehabt“, sagt sie eines Tages, „wenn ich das erzähle, komme ich ins Gefängnis bei Wasser und Brot.“ Schlangen kriechen durch ihre Alpträume und dicke Würmer winden sich aus ihren Händen, wenn sie mit Knete modelliert. Eigentlich hat dieses Kind etwas Merkwürdiges...

Donnerstag, 8. August, gegen Mittag

Die Polizei vernimmt Daniel als Zeugen. „Daniel? Der ist immer so komisch“, sagt die 13jährige Jennifer und grient ein bißchen, um ihre Zahnspange vorzuführen. Sie wohnt schon lange auf dem Seitert und macht sich so ihre eigenen Gedanken. „Ich glaube, die Erwachsenen wissen nicht viel über ihn, die kriegen doch nichts mit.“

Ihre Schwester Jessica kommt ins Erzählen: „Der hat mal einen kleinen Jungen ganz fest beim Hals gepackt und hat erst losgelassen, als dessen Vater kam.“ – „Und wie wir ihm mal was hinterhergerufen haben, hat er mit Steinen geschmissen“ – mit beiden Händen formt Jennifer einen beachtlichen Brocken –, „aber mit so großen.“ – „Er will immer der Boß sein, kommt zu den kleineren Jungs und brüllt: Jetzt gehen wir arbeiten! Los, auf'n Bau!“ – „Von mir wollte er mal“, wirft der 11jährige Dominik verhalten ein, „daß ich ihn fessel' und anspucke und sage, er ist behindert.“

Von Bascha Mika

Dominik zögert. „Gefesselt hab' ich ihn ja, aber nicht bespuckt.“

Einen Körper wie 16 und ein Gemüt wie 11: Für den Kinderklüngel auf dem Seitert ist Daniel der „Depp“, der „Idiot“, der „Blödmann“. Gleichaltrige tun ihn verächtlich ab, nur die Kleineren spielen mit ihm. Ab und zu. Denen will er es dann zeigen. Die sollen parieren! – Aber selbst sie übergießen ihn mit Spott: „Was bist denn du für 'n Stoffel?!“

Worte, Worte sind Daniels Feinde. Sie fallen ihn an, sie prasseln auf ihn herunter, verkleistern ihm Ohren und Mund, bis der Kopf implodiert. Und dann fliegt sein Blick und dann greift er sich einen Stein und dann ist er stark und dann wirft er...

In den letzten Jahren hat Daniel dreimal den Wald angezündet. Zweimal beim Kinderdorf, einmal bei der Siedlung. Keine kleinen Kokeleien, richtige Brände hat er gelegt. Nachdem er das größte Feuer angefacht hatte, tauchte er im Bäckerladen auf und verkündete wie nebenbei: „Ich hab' den Wald angesteckt.“

Er ist ein Sonderschüler, der seinen Lehrern als beunruhigend still auffällt. Wird er harsch angepackt oder gereizt, verstummt er vollends. Sein schmales Gesicht zieht sich zu, bis es erstarrt. Und dann knurrt er. Tief aus der Brust heraus, wie eine sprachlose Kreatur. Doch es braucht nur eine freundliche Geste, und die krampfhafte Lähmung fällt ab von dem Jungen. Anschließend ist er besonders sanft und anhänglich.

Seine Mitschüler hat Daniel nie angegriffen, auch wenn sie ihn noch so hänselten. Doch in einem Ferienlager vor zwei Jahren zog er einem Jungen eine Plastiktüte über den Kopf und wollte sie zuschnüren. Eigentlich ist Daniel beängstigend...

Die Angst und die Alpträume, die Katharina nachts plagen, vergehen langsam. Sie wohnte schon mehr als ein halbes Jahr auf dem Seitert, als sie mal wieder bei ihrer Pflegemutter auf dem Schoß saß. Und dann hat sie erzählt. Von der Zeit, als sie bei ihrer Mutter gelebt hat. Von dem Mann. Was der Mann mit ihr gemacht hat. Wie der Mann es gemacht hat und wo. Sie schnatterte nicht los, wie sonst, sie wisperte. Daß sie jetzt ins Gefängnis käme, weil sie es verraten hätte.

Die Pflegemutter ließ das Kind untersuchen. Die Ärztin fand alle Anzeichen, daß Katharina sexuell mißbraucht worden war. Die Pflegeeltern schalteten die zuständigen Behörden ein und suchten therapeutische Hilfe für das mißhandelte Mädchen. Eigentlich soll die Behandlung noch diesen August beginnen...

Donnerstag, 2 Uhr nachmittags

Die Polizei vernimmt Daniels Kinderdorfmutter. Zum Verschwinden des Mädchens kann sie nicht viel sagen; am Mittwoch war sie gar nicht im Dorf. Es geht um den Jungen – ihr Pflegekind, ihr Enkelkind, ihr Sorgenkind. Immer hat sie Daniel geschützt und verteidigt; allen hat sie sich in den Weg gestellt. Wo hätte er denn sonst hin sollen, der Junge? Liebe hat er bekommen, Fürsorge auch. Doch manche Kinder werden mit einem Mangel in die Welt gestoßen, den nichts ausgleichen kann.

Daniel wird regelmäßig therapeutisch behandelt – wie viele andere Zöglinge des Kinderdorfs. Doch je älter er wird, desto auffälliger wird sein Verhalten. „Ich schlachte dich ab!“ – „Morgen bist du dran!“ – „Ich bring' dich um!“ ruft er Kindern und Erwachsenen haßerfüllt hinterher.

„Dieser Junge hat zwei Gesichter“, sinniert eine junge Frau aus der Siedlung, „er kann so hübsch und freundlich sein mit seinen blonden Locken. Doch im nächsten Moment kriegt er 'nen Rappel und wird furchtbar zornig.“ Sie hat vier Kinder. Wie viele andere Seitert-Mütter hat sie ihnen verboten, mit Daniel zu spielen. „Die Kinder versuchen immer, ihm eins auszuwischen, und er ist unberechenbar, wenn er gereizt wird. Keineswegs harmlos. Er kann Situationen, die auf ihn zukommen, einfach nicht einschätzen.“

Sie macht sich Sorgen. Alle Eltern von kleineren Kindern machen sich Sorgen. Darf man Daniel überhaupt noch frei herumlaufen lassen? Er ist familiär umsorgt; doch, wie in einer Familie üblich, wird nicht ständig auf ihn aufgepaßt. Seine Pflegemutter, ein Therapeut, mehrere pädagogische Betreuer und der Leiter des Kinderdorfs – alle kümmern sich um ihn. Aber wer will schon darauf drängen, daß der Junge weggebracht wird?

Die Entscheidung liegt bei Ekkehard Facklam, dem Leiter des SOS-Kinderdorfs Saar. „Sicher ist Daniel schwierig“, bestätigt der, „das war vom ersten Tage an so.“ Doch dafür sei das Dorf ja da, für verstörte und traumatisierte Geschöpfe, für die, die sonst nirgendwo einen Platz fänden. „Allerdings verstehe ich“, sagt Facklam diplomatisch, „wenn Eltern ihre Kinder von Daniel fernhalten.“

Donnerstag, 3 Uhr nachmittags

Daniel ist verdächtig. Was hat er mit Katharina gemacht? Ein Junge vom Seitert belastet ihn schwer. Er habe Daniel am Mittwoch nachmittag getroffen, berichtete er der Polizei, und da habe Daniel ihn gefragt: „Willst du mal ein totes Mädchen sehen?“ Eigentlich hatte der Junge das nicht ernst genommen...

Bisher wurde Daniel als Zeuge befragt, nun wird er von der Polizei als Beschuldigter vernommen. Seine Pflegemutter wird dazugeholt.

Donnerstag, 4 Uhr nachmittags

Polizeifahrzeuge brausen in Richtung Merzig-Hilbringen. Die Suche ist beendet. Vierundzwanzig Stunden war Katharina verschwunden. Jetzt hat man sie gefunden. Nicht im Wald hinter dem Sportplatz, sondern mitten im Kinderdorf. Im dichten Gestrüpp hinter Haus Tanne, dort wo der Rasen ins Unterholz übergeht. Sie liegt in einem von Daniels Holzverschlägen, nur 200 Meter von seinem Heim entfernt.

Katharina ist tot. Eingewickelt in eine Plastikplane, die an beiden Enden mit rotweißem Band verschnürt ist. In diesem Kokon ist sie erstickt. „Vorsicht, Lebensgefahr!“ steht auf dem Band.

„Ich hab' sie verpackt wie einen Bonbon“, sagt Daniel. Solange seine Pflegemutter im Zimmer ist, will er nicht weitersprechen. Aus dem, was er dann gesteht, können sich die Ermittler nur schwer ein Bild machen. Er liefert Bruchstücke, manchmal nickt er auch nur oder antwortet einsilbig: „Ja.“ Noch Wochen später wird er nicht über das Geschehen reden wollen.

Aus seinen rudimentären Angaben rekonstruiert die Polizei einen möglichen Tathergang:

Daniel traf Katharina, kurz nachdem sie das Haus verlassen hat. Beim Spielen überredete er sie, zu seiner Höhle zu kommen. Das Mädchen wollte da nicht rein, also schob, stieß und zerrte er sie. Drinnen fingen die beiden an zu streiten, Daniel schlug zu, Katharina wurde ohnmächtig. Er rollte sie in eine Baufolie, wickelte Plastikband um beide Enden und zog zu. Dann ging er weg. Das Mädchen erstickte. Er lief nach Hause. Er baute das Kreuz.

Als man sie fand, trug Katharina all ihre Kleider, nur nicht die Schuhe. Bei der Obduktion wurde festgestellt, daß sie weder verletzt noch mißhandelt worden war.

„Man steht da und beginnt erst langsam zu begreifen“, sagt Dorfleiter Facklam. „Bis zum Schluß haben wir gehofft, daß wir es nicht sind. Und hoffen es immer noch.“ Wir? „Wir sind sicher nicht insoweit verantwortlich“, ergänzt er schnell, „daß hier jemand bösartig was unterlassen oder gemacht hat.“

Mitten im Kinderdorf, als Wahrzeichen am Wegrand, steht ein Bildstock. Hinter Glas breitet eine Frauenpuppe ihren blauen Umhang schützend um eine Schar Kinder. Ein Kind wurde hier sehr lange geschützt. Das Jugendamt Saarbrücken prüft, ob das SOS- Kinderdorf seine Aufsichtspflicht verletzt hat. Die Zentrale in München hat eine Untersuchung eingeleitet.

Weiß Daniel, daß ein Mensch stirbt, wenn man ihn fest in Plastik einwickelt? Das wisse er wohl, sagt der Junge der Polizei. Er habe es im Fernsehen gesehen, in „Aktenzeichen XY ungelöst“. Sechs Wochen im voraus habe er die Tat geplant.

Kann er überhaupt langfristig planen? Das Material vom Bau, das er zur Hand hatte, beweist es nicht. So ein Zeug hat er ständig weggeschleppt und in seinen Hütten gebunkert.

„Daniel kann zwischen Phantasie und Realität nicht unterscheiden“, sagt Dorfleiter Facklam, „es würde unsere Pädagogen und mich sehr wundern, wenn er die Tat vorsätzlich begangen hätte.“

Zehn Tage nach Katharinas Tod hätte Daniel nach Landau in ein Berufsbildungswerk umziehen sollen. Zum einen, um eine Lehre als Maurer zu beginnnen. Zum anderen – und das war für seine Betreuer der entscheidende Punkt – sollte er raus aus dem Kinderdorf. Alle wußten, er ist ein Risiko. Jetzt steckt Daniel im Landeskrankenhaus in der geschlossenen Psychiatrie. Warum, versteht er nicht, er will nach Hause. In einigen Monaten wird das Jugendgericht Saarbrücken den Prozeß gegen ihn eröffnen.

„Er ist schuldunfähig“, sagt sein Anwalt. „Es besteht überhaupt kein Zweifel, daß er für den Tod des Mädchens verantwortlich ist“, sagt der Staatsanwalt. „Niemand im Kinderdorf braucht sich etwas vorzuwerfen“, sagt Leiter Facklam.

Und Katharina hat gesagt: „Daniel ist mein Freund!“

„Er ist toll“, schwärmte sie in ihrer Pflegefamilie, „er läßt mich den Hammer halten, und manchmal darf ich die Nägel einschlagen.“ Kaum lief Katharina aus dem Haus, suchte sie Daniel. Oder er suchte sie. Er spielte mit ihr Fangen und ließ sie auf seiner Schulter reiten. Den halben Sommer steckten die beiden zusammen. Das verratene Mädchen, das mit Gleichaltrigen nicht zurechtkam und nur von Älteren beachtet werden wollte, und der versehrte Junge, der sich nur mit Kleinen groß fühlen konnte. Verklammert in ihrer beider Beschädigung, gefangen in einer zerstörerischen Anziehung.

Ende Juni wurde es der Pflegemutter zu unbehaglich. Sie verbot Katharina ins Dorf zu gehen und Daniel zu treffen.

Am Tag, als das Mädchen verschwand, durfte es zum ersten Mal nach vier Wochen wieder auf ihren geliebten Spielplatz im Kinderdorf. „Aber daß du mir von Daniel wegbleibst!“ Eigentlich wollte Katharina auf ihre Pflegemutter hören. Doch dann sah sie Daniel...